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Der Kartograph

Der Kartograph

Titel: Der Kartograph Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Gabriel
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dem Straßburger Drucker Jean Grüninger
für den Rest seines Lebens dankbar, dass dieser die Angelegenheit
niemals erwähnte.
    Er blickte hinunter auf das Stück Holz vor
sich. Er sah die Spuren eines Schnitzmessers darauf. Doch sie
ähnelten nicht im mindesten der Vorlage, derer er nun ebenfalls
gewahr wurde. Das Motiv entstammte der Fantasie des jungen Albrecht
Dürer. Martin Waldseemüller kannte den Kupferstich. Er zeigte
eine geflügelte Gestalt, das Gewand und ein Zaumzeug lässig
über den linken Arm geworfen, in der vorgestreckten Rechten einen
wertvollen Pokal – ein Himmelsbote, oben offenbar Frau, unten
gebaut wie ein Mann, auch wenn das Geschlecht nicht zu erkennen war.
Das Wesen schwebte auf einer Kugel. Unter sich – klein und
unbedeutend – die Welt. Das Werk trug den Titel
«Nemesis». Es stellte die griechische Göttin des
rechten Maßes und der Vergeltung dar, die aus Übermut
begangenes Unrecht bestraft. Besonders die Hybris, die
Selbstüberschätzung des Menschen. Für Hesiod, den Epiker
des antiken Griechenland, war sie die Göttin der Nacht.
Waldseemüller fand diese Allegorie in Anbetracht seines
Seelenzustandes überaus passend.
    Grüninger ebenfalls. Aber aus anderen
Gründen. Er liebte die Werke des jungen Dürer, hielt ihn
für einen der größten Künstler des Jahrhunderts.
Außerdem hatte er keinerlei Skrupel, die Gestalt als Vorlage in
einen Druckstock schnitzen zu lassen. Er wollte sie in einem seiner
späteren Werke unterbringen. Grüninger hatte überhaupt
wenig Skrupel, zumindest was die Texte seiner Drucke anging. Sie waren
nicht sonderlich sorgsam editiert. Es musste immer schnell gehen. Und
er beschränkte sich auch keineswegs auf wissenschaftliche
Schriften. Kleine populäre Geschichten um Raub, Mord und verkannte
Liebe, zumeist in Anlehnung an die Dramen der alten Griechen, waren ihm
ebenso lieb. Zumal sie quasi nach Bebilderungen schrieen.
Grüninger liebte Bilder, je opulenter, umso besser.
    Martin Waldseemüller starrte eine Weile
betrübt auf den teuren Holzklotz. Er war sorgsam getrocknet,
schien gut gelagert worden zu sein. Solches Holz war nicht leicht zu
bekommen. «Ich fürchte, ich habe Euch ein gutes Stück
Material zu Schanden geschnitten», brachte er schließlich
heraus. Zu seiner Überraschung lachte Grüninger. «Da
seid Ihr nicht der Erste, und Ihr werdet auch nicht der Letzte sein.
Euer Freund Matthias Ringmann schwört jedoch Stein und Bein, Ihr
hättet eine sensible Hand, wärt ein
außergewöhnliches Talent, das nur noch ein wenig des
Feinschliffs bedürfe, um wahre Kunstwerke zu schaffen. Er habe
Arbeiten von Euch gesehen. Ich glaube ihm.»
    «Ihr seid zu gütig», murmelte Waldseemüller mit rotem Kopf.
Grüninger klopfte ihm erneut gutmütig auf die Schulter.
«Ich werde Euch ein anderes Stück Holz heraussuchen. Ich bin
mir sicher, dass Euch die Schnitzarbeit künftig leichter von der
Hand gehen wird. Gute Holzschnitzer sind außerdem schwer zu
finden.»
Zwei Tage später heiratete Marie Grüninger den Kaufmannssohn
Andreas Schott. Er war ein weitläufiger Verwandter eines anderen
Druckers: Martin Schott, ein gebürtiger Straßburger, der
sich als Drucker im Elsass einen guten Namen gemacht hatte. Es war
keine große Hochzeit. Aber groß genug, um den Status des
Druckers Grüninger zu unterstreichen, der seine Nichte
großzügig verheiratete.
Marie Grüninger konnte nicht umhin, sich an diesem Tag besonders
intensiv an den sehnigen, kraftvollen Körper ihres letzten
Liebhabers zu erinnern. Wenn sie ihren Gatten so be- trachtete,
versprachen seine weichlichen Hände und die blassblauen Augen
alles andere als wilde Leidenschaft. Er war ein Mann der milden
Gefühle. Die frisch verheiratete Marie Schott hatte aber auch noch
einen anderen Grund, intensiv an den Kartographen zu denken. Sie
befürchtete, dass sie schwanger sein könnte. Wenn sie
zwischen diesen beiden Männern, dem leidenschaftlichen Liebhaber
und ihrem lauwarmen Ehemann, hätte wählen können, dann
wäre ihre Wahl auf Waldseemül- ler gefallen. Doch eine
Verlobung war ebenso bindend wie eine Heirat. Außerdem war
Waldseemüller nicht der Mann, der ihr Wohlstand und eine
angesehene Stellung in der Gesellschaft hätte bieten können.
Er hatte nichts und er war nichts. Ganz anders Andreas Schott. Die
Truhen seines Vaters waren wohl gefüllt. Er gehörte zu jenen,
die sich sogar den Luxus dieser neuen Druckerzeugnisse leisten konnten,
mit denen ihr Onkel ein Vermögen verdiente. Egal, was

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