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Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells

Titel: Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Harvell
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werden? «
    Die kühle Luft hatte meinen Zustand
gebessert, und ich hob die Augen wieder zu meinem Maestro. Sein glattes Gesicht
war genauso beherrscht wie auf der Bühne, aber ich hatte ein leises Zittern in
seiner Stimme gehört. Jetzt sah er aus dem Fenster, als spräche er nicht mehr
zu mir, sondern nur zu sich selbst. »Wenn ich mich verbeuge«, sagte er, »frage
ich mich oft: Wie viele Jungen habe ich heute Abend mit meiner Stimme
kastriert?«

IX.
    Als ich Remus bat, mich
Italienisch zu lehren, kam er der Bitte mit überraschendem Ernst nach. Es
gelang mir jeden Tag, zwei Stunden von Guadagni fortzukommen, und Remus gab mir
Unterricht. Er war ein noch anspruchsvollerer Lehrer, als Ulrich es bei seinen
Gesangsstunden gewesen war; durch Wörter und Sätze hindurch sah er ein geheimes
Muster, in dem verschiedene Sprachen in einem einfachen mathematischen
Verhältnis zueinander standen, das mein eigener Kopf nicht erfassen konnte.
Aber die Bausteine der Sprache sind nicht Wörter, sondern Laute, und da lag
mein Talent: Ich erkannte die grundlegenden Laute sofort, und obwohl Dante nach
zwei Wochen immer noch keinen zusammenhängenden Sinn ergab, begann ich beim
Aufsagen gelegentliche Bedeutungsbündel zu erfassen – ein König in der Jauche,
ein brüllender sizilianischer Bulle, tausend erstickende purpurrote Gesichter.
    »Sein Italienisch ist bereits besser
als deins, Remus«, scherzte Nicolai bald vom Sessel aus.
    »Die Aussprache ist unwichtig«, gab
Remus zurück, »wenn er nicht versteht, was er sagt.«
    »Ich verstehe das alles auch nicht«,
sagte Nicolai aus dem Schatten, denn wegen seiner Augen ließen wir nur eine
einzige Kerze brennen, »aber was er liest, ist schön. Handelt es von wahrer
Liebe?«
    »Von Lüsternheit und Lust«, sagte
Remus ausdruckslos. »Stöhnen, Weinen und Wehklagen. Dazu sind die fleischlichen
Sünder verdammt. Ohne Hoffnung auf Ruhe oder Linderung ihrer Schmerzen.«
    »Wie gut, dass wir dich haben, Remus«,
antwortete Nicolai. »Sonst würden wir alle die gemeinste Lust für wahrhaftige
Liebe halten.«
    »Lies weiter, Moses. Lass dich nicht
von ihm ablenken.«
    »Gibt es in diesem schrecklichen Buch
überhaupt wahre Liebe?«, fragte Nicolai.
    »In allen ihren Formen«, gab Remus
zurück. »Es gibt Herzen, die getrennt werden, unstillbare Leidenschaft,
Idealisierung aus der Ferne.«
    »Bring ein anderes Buch«, sagte
Nicolai verächtlich. »Ich will gegenwärtige Liebe. Dante ist tot. Die Hölle ist
weit weg. Könnt ihr mir denn nichts erzählen, das man förmlich schmecken kann?«
    »Lies, Moses.«
    Ich öffnete das Buch wieder, aber
meine Hände zitterten. Erzähl es ihnen! Jetzt! Erzähl
ihnen von ihr! Ich wollte es so sehr, aber
ich konnte nicht. Sie würden mich nicht auslachen, das wusste ich, aber ich
hatte Angst vor dem Erstaunen in ihrem Blick. Du?
Verliebt? Du?
    Sie würden es nicht aussprechen, aber
es würde trotzdem gesagt werden.
    Eines Abends, als im Burgtheater
weder Schauspiel noch Oper oder Ballett auf dem Programm standen, überredete
ich Tasso, seine Höhle zu verlassen und mit nach Spittelberg zu kommen. Er
flitzte hinter mir durch die Straßen und blieb immer im Schatten, als fürchtete
er, ein Habicht würde niederstoßen und ihn erbeuten.
    Als ich den kleinen Mann die Treppe
hinauf und in das düstere Wohnzimmer führte, blieb er auf der Schwelle stehen
und musterte den Raum wie ein Mann, der feststellen will, ob das Schiff, das er
gleich besteigen wird, auch wirklich schwimmt. Remus begrüßte uns und bot Tasso
die Hand an, aber dieser nahm sie nicht. Er spähte an Remus vorbei auf die
große Gestalt in dem Sessel.
    »Zwei Männer«, fragte Tasso, »ganz
allein?«
    »Nur wir beide«, antwortete Remus.
    »Keine Frauen?«
    »Nein.«
    Tasso blickte auf Remus. Seine Nase
zuckte.
    Nicolai rief, ohne sich umzudrehen:
»Moses, ist das der kleine Mann, den wir eines Tages kennenlernen sollten?«
    »Ja«, sagte ich nervös. »Das ist
Tasso. Vom Theater.«
    »Nur herein«, rief Nicolai. »Nur
herein! Ist es wahr, dass Ihr die Kaiserin kennt? Erzählt uns von ihren
Töchtern!«
    Tasso sah nach oben, zu Remus. Er
streckte seinen Daumen in Nicolais Richtung. »Was fehlt deinem Mann?«
    »Er ist nicht mein Mann«, sagte Remus
verärgert. Ich hatte ihn noch nie so rot werden sehen. »Er ist krank.«
    »Krank im Kopf«, sagte Tasso und ging
dann an Remus vorbei in den Raum.
    »Moses«, sagte Nicolai, »ich mag diese
Maus von einem Mann.«
    Tasso setzte sich auf Remus’

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