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Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells

Titel: Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Harvell
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haben nichts mit uns zu tun.
Wir sind von ganz anderer Art – was sie zu verachteten Sklaven machte, macht
uns zu Göttern, die angebetet werden. Das trifft auch auf dich zu, selbst wenn
du nicht reich bist und keiner dich kennt. Niemand wird je von dir verlangen
vorzuzeigen, was du verloren hast. Du wirst niemals von deinem Herrn in
Augenschein genommen werden. Keiner wird dir befehlen, dich mit dem Gesicht
nach unten auf ein Bett zu legen. Dein Schmerz ist vor Jahren vergangen, du
wirst nicht an deiner Wunde sterben.«
    Er nahm meine Hand und hielt sie ins
Licht. »Sieh her, mio fratello, sieh her, was dieser Schnitt dir geschenkt hat. Kein
Mann hat so schöne Hände, so elegante Finger. Und sieh dir das an.« Er berührte
seine Wange, die leicht geschminkt war, um ihr natürliches Leuchten zu
verstärken. »Kein Mann hat reine Haut wie diese, wir kennen keine Pickel, sie
sind die Geißel der Nichtkastrierten. Mehr noch, bedenke, wie klein sie sind,
und wie hochgewachsen dagegen wir.« Er legte seine Hände auf die Brust, die
sich unter dem Brokatrock wölbte. »Hat irgendein anderer Mann einen solchen
Brustkorb? Meine Lungen sind doppelt so groß wie die der besten
nichtkastrierten Sänger der Welt. Auch dafür muss ich dem grausamen Schnitt
danken. Es ist der Zauber dieses Schnitts, der unsere Rippen so lang werden
lässt. Und es gibt noch mehr: Unser größter Schatz liegt im Verborgenen, bis
wir singen.« Er hielt einen Finger in die Höhe, als wolle er mich herausfordern
zu raten, wo er hinzeigen würde. Schließlich zeigte er auf seinen Hals. » Sie haben dieses hässliche
Ding, la pomme d’Adam, das aus ihrem Hals ragt. Und wenn man daran denkt, dass an diesem krummen
Vorsprung ihre Stimme entsteht! So ungeeignet für das Singen wie eine Violine
mit einem zerbrochenen Hals.« Er streichelte seinen eigenen Hals, als wäre er
der Rücken einer Katze. »Im Gegensatz dazu hat sich unser Kehlkopf nicht
gesenkt, sondern ist dort geblieben, wo Gott ihn hingesetzt hat.
    Verstehst du nicht!«, rief er aus. Er
umklammerte meinen Arm. »Unser Gesang unterscheidet uns von den Kastraten
anderer Zeitalter. Sie wurden verschnitten, weil sie arm waren oder schön oder
glücklos. Ich wurde verschnitten, weil ich als Junge wie eine Nachtigall
gesungen habe. Und deshalb bitten sie mich jetzt, hier in Wien, ihr Orpheus zu
sein! Ich habe Orlando, Solomon, Julius Caesar gesungen. Das sind Götter unter
den Menschen! Ich bin nicht ihr Sklave. Ich bin nicht ihr Diener. Ich bin ihr
Held. Ich bin ihr Engel. Ich bin der, von dem die Frauen träumen, wenn sie
nachts einschlafen. Oh, wie leicht es für sie ist, mich zu lieben! Die Liebe zwischen
einer Frau und einem normalen Mann ist im besten Fall langweilig, im
schlimmsten ist sie schmutzig und schmachvoll. Aber wenn ich mit einer Frau
zusammen bin, wird ihr Verlangen zum Sturzbach. Keine Angst hält sie zurück, in
dieser Nacht werden keine Kinder empfangen, keine erzwungene Ehe ist die Folge,
keine ewige Schande. Sie weiß, dass sie sich am nächsten Morgen ohne Bedauern
an ihr Vergnügen erinnern wird. Gott missbilligt es nicht, wenn ein Engel an
ihren lustvollen Träumen teilnimmt. Und auf diese Weise spiele ich nicht nur
Orpheus, sondern auch Bacchus. Gelegentlich verhöhnen mich unwissende Ehemänner
– ich höre sie sagen, dass mein Schwert nicht stechen kann –, aber sie sind die
Narren. Denn der Stoß aus dem Becken, den sie für eine Großtat halten, kann
ersetzt, neu geschaffen und verbessert werden.«
    Guadagni grinste, als erinnere er sich
an ein gerade zurückliegendes Beispiel für seine prahlerische Behauptung. Er
starrte aus dem Fenster, bis sein Grinsen verschwunden war, und wandte sich
wieder mir zu. »Was war eigentlich deine Frage? Ach ja, mein Kastrator. Ich
sagte, dass Italien mich zu dem gemacht hat, was ich bin. Ich kann nicht
einfach meinem Vater die Schuld geben oder der Buffotruppe, an die er mich
verkauft hat, oder dem Barbier, den sie bezahlten, um mich zu verschneiden.
Gewiss, ich hoffe, dass all diese Männer in der Hölle schmoren, aber das wäre
nur ein kleiner Trost für mich und für dich und die Tausende von anderen
Jungen, die jedes Jahr in Italien verschnitten werden. Mio fratello, wir wurden
wegen der Schönheit unserer Stimmen verschnitten. Wir wurden verschnitten, weil
an jedem Abend in jeder italienischen Stadt Engel auf der Bühne singen und
jeder Mann, der einen Sohn hat, nach Hause geht und sich fragt: Könnte mein Sohn auch ein Engel

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