Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells
Stuhl,
neben Nicolai.
»Das müssen wir feiern!«, sagte
Nicolai. »Moses, sing! Nein, nein, warte noch – wir müssen uns in Stimmung
bringen. Remus, geh nach unten und sag Herrn Kost, wir wollen sein schwärzestes
Gebräu.«
Remus tauchte ein paar Minuten später
wieder auf und balancierte vorsichtig vier Tassen, die eine so schwarze und
dampfende Flüssigkeit wie die Teerpfützen in Dantes Hölle enthielten.
»Zucker«, erklärte Nicolai. »Das ist
das Geheimnis. Sonst kriegt man es nicht runter.«
Wir lösten mehrere Stücke in jeder
Tasse auf. Tasso hielt sich die Nase zu, während er trank. Ich konnte erst
trinken, nachdem ich die Zuckerdosis verdoppelt hatte – genug, um das Ganze in
einen süßen Brei zu verwandeln. Aber nach der Einnahme brauchte die Magie nur
eine Minute, um zu wirken: Der trübe Raum pulsierte. Ich glaubte, ich würde nie
wieder schlafen müssen. Tasso kicherte verschwörerisch.
Nicolai schüttelte den Kopf, als summe
eine Hummel darin.
»Sing für uns, Moses«, sagte Remus.
Ich lächelte. In all den Jahren, die wir uns schon kannten, hatte er mich noch
nie darum gebeten, zu singen, und jetzt, wo dieser Zaubertrank in meinen Adern
pulsierte, wollte ich den Klang herauslassen.
Ich stellte mich vor sie und
überschüttete meine drei Freunde mit Gesang. Nicolai lehnte sich zurück und
schloss die Augen. Tasso ließ seine Füße, die nicht ganz auf den Boden
reichten, hin und her schwingen. Remus lehnte sich an die Wand, wiegte einen
Fuß im Takt der Musik und hatte Freudentränen in den Augen.
X.
Endlich war September und
der Abend bei Gräfin Riecher war gekommen. Guadagni kleidete mich in roten Samt
mit goldenen Löwen, die auf meiner Brust brüllten.
»Warum so nervös?«, fragte mein
Mentor, als wir in seiner Kutsche durch die Wiener Nacht rollten. »Sie werden
dich nicht zum Singen auffordern.« Sein Gesichtsausdruck war gelassen, seine
Kleidung raffiniert.
»Ich bin nicht nervös«, sagte ich. Ich
drehte an einem Knopf an meinem Rock. Plötzlich hielt ich ihn in der Hand.
Er schüttelte den Kopf. »Sei einfach
nicht so ein Langweiler«, sagte er. »Die Jagd, mio
fratello, die Jagd ist alles.«
Wir fuhren durch das Tor in den
äußeren Hof ein. Der Zerberus – der mich vor nicht einmal zwei Monaten
hinausgeworfen und versprochen hatte, mir das Gesicht einzuschlagen, sollten
wir uns je wieder treffen – öffnete persönlich die Wagentür. Ich hatte so viel
Angst vor ihm, dass ich die Stufe verpasste und fiel. Er streckte seine Hände
mit den weißen Handschuhen nach mir aus und hob mich auf, wobei unsere
Gesichter sich so nahe kamen wie die von Liebenden. Wiedererkennen,
Erschrecken. Er unterdrückte es. »Mein Herr«, sagte er nur und stellte mich
behutsam auf die Füße.
Guadagni führte mich in das Palais,
und das Haus der Dufts in Sankt Gallen erschien im Vergleich dazu wie die
Behausung eines Höhlenmenschen – hier waren die Fußböden aus Walnuss, die Wände
mit roter Seide bespannt, die Türrahmen und Tische mit Gold verziert. Im Foyer
führte eine prachtvolle Treppe in die oberen Stockwerke. Dort verweilte ich und
lauschte auf die Geräusche, die ich mir zu hören wünschte, aber Guadagni zog
mich am Ärmel.
Ich betrat den Ballsaal direkt hinter
ihm und lief in ihn hinein, als er stehen blieb und sich verbeugte. »Dummkopf«,
zischte er; er lächelte dabei, weil alle sich umdrehten, um uns anzusehen. Ich
lächelte auch und beugte mich leicht in der Taille, als hätte ich Bauchweh.
Dann begann er mit seinem Tanz – Frauen kicherten, als er ihnen die Hand
küsste, Männer wurden rot und schluckten, wenn er ihnen zuzwinkerte.
Ich stolperte im Raum umher, wurde
gerempelt und gestoßen wie ein Baumstamm, der auf dem Fluss treibt. Ich
versuchte, alles zu hören. Männerhacken knallten auf dem harten Walnussboden.
Die spitzen weißen Kappen von Damenschuhen raschelten an den gerüschten
Kleidersäumen. »Ich ertrage es nicht, meine Ländereien zu besuchen«, sagte ein
Fürst. »So weit weg von allem, was wirklich zählt .« »Kohle wird in Dampf umgewandelt«, erklärte ein
anderer. »Oder war es Dampf in Kohle?« Ich geriet in einen Kreis von faltigen
Witwen, die ächzten und mich sogleich an eine Gruppe von Damen mit zu viel
Schminke im Gesicht weitergaben. »Ich verstehe das nicht«, sagte eine von
ihnen, »auf dem Land haben sie Felder, Häuser, Wasser, um ihre Kinder zu
waschen, aber alle wollen sie in der Stadt leben.« Ein Stückchen weiter weg bewunderten
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