Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells

Titel: Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Harvell
Vom Netzwerk:
die Lippen und schlug die Taste noch einmal
an. »Diese Note.« Mein Mund war trocken, meine Zunge dick vor Angst.
    »Sing«, sagte der Abt. Er schlug sich
auf den Handrücken. »Ich habe keine Zeit für Spiele.« Die Note wurde noch
einmal angeschlagen. Ulrich sang sie. Seine Stimme war klar und kalt.
    »Nur zu, Moses«, sagte Nicolai. Er
nickte, lächelte und zog seine dicken Augenbrauen so weit in die Höhe wie
möglich. »Sie wollen dich nur singen hören.«
    Angewidert sah der Abt auf Nicolais
Lächeln und sagte kalt: »Junge, sing oder du wirst Nicolai nie wiedersehen.«
    Ulrich schlug die Taste noch einmal an
und beugte sich unter dieser kleinen Anstrengung.
    »Nur diese Note«, drängte Nicolai
mich, als hätte der Abt nicht gesprochen. »Nur diese eine.«
    Ich glaube, nicht einmal ein Engel
hätte mich zum Singen bewegen können. Der durchdringende Ton der Cembalosaite
hätte meinetwegen auch ein Hundebellen sein können, das ich nachmachen sollte.
Ich würde einfach da stehen bleiben, bis sie mich gehen ließen.
    »Er hatte die Gelegenheit«, sagte
Staudach. Er griff nach meinem Arm, um mich vom Stuhl zu ziehen. Aber Ulrich
hielt ihn auf.
    »Allein«, sagte er. Er legte seine
bleiche Hand auf die des Abtes. »Lasst uns allein. Dann wird er singen.«
    »Warum sollte er es allein mit Euch
tun, wenn er nicht singt, obwohl seine Zukunft auf dem Spiel steht?«
    »Ich muss mit ihm sprechen.«
    Der Abt warf die Arme in die Höhe.
»Dann sprecht mit ihm!«
    »Allein.«
    »Ooch«, jammerte der Abt. »Ich habe
keine Zeit für so etwas. Aber ich gebe Euch zehn Minuten. Danach sitzt er in
einem Wagen nach Rorschach.«
    Er ging. Nicolai sah ihm nach, machte
aber keine Anstalten, ihm zu folgen.
    »Bitte, Bruder Nicolai.« Ulrich zeigte
zur Tür.
    Der Gedanke, mich zu verlassen, schien
dem großen Mönch zu missfallen. »Vor mir hat er keine Angst.«
    Ich nickte zustimmend. Im Stillen
betete ich, dass mein Beschützer mich nicht mit diesem Mann allein lassen
würde.
    Aber Ulrich trat zu Nicolai und
versuchte, ihn aus dem Raum zu schieben. »Ich muss allein mit ihm sprechen«,
flüsterte er ernst. »Bitte.«
    Nicolai befreite sich aus dem Griff
des anderen. »Ich habe gelobt, ihn zu beschützen.«
    Ulrich sprach leise, aber mit
Festigkeit. »Uns allein zu lassen, ist das Beste, was Ihr tun könnt. Bleibt vor
der Tür, wenn Ihr wollt.«
    Nicolai sah mich an und bemerkte meine
aufgerissenen Augen und den offenen Mund. Meine Hände waren zu Fäusten geballt.
»Moses«, sagte er. »Er wird dir nichts tun. Das verspreche ich dir. Tu, was er
sagt.« Aber er sah blass und besorgt aus, als er sich abwandte und hinausging.
    Dann war ich allein mit diesem gelben
Mann, der so wenig Laute hatte. Er stand so nahe bei mir, dass ich mehr hätte
hören müssen – ein Geräusch, wenn er den Kopf wandte, die Zunge hinter seinen
Zähnen, seine Füße auf dem Holzboden, die Feuchtigkeit in seinem Hals, wenn er
ausatmete. Aber ich hörte nur jenen sanften Luftzug aus seinem Mund. Er
musterte mein Gesicht, dann beugte er sich näher zu mir heran.
    »Ich habe dich gehört«, flüsterte er,
als hätte er Angst, dass Nicolai ihn belauschen könnte. »Die anderen haben
vielleicht deine Stimme gehört. Sie ist unvollkommen, noch nicht ausgebildet.
Aber sie sind Dummköpfe. Ich habe dich gehört. Ich habe deine Lungen gehört. Ich habe dich
hier gehört.« Er streckte einen kalten Finger aus und strich sacht an meiner Kehle
entlang. »Du konntest gar nicht anders, habe ich recht? Du wärst geplatzt, wenn
du noch einen Augenblick länger geschwiegen hättest?«
    Der Chormeister roch nach verfaultem
Heu. Seine Nase war auf einer Höhe mit meiner. Fast wünschte ich, der Abt würde
zurückkommen und mich weit, weit wegbringen.
    »Ich glaube, du hast mich auch gehört.
Ich kann nicht so singen wie du, Moses. Wir haben verschiedene Gaben. Aber wir
passen zusammen.« Vor meinem Gesicht verschränkte Ulrich seine Finger.
    Ich schloss die Augen, es machte mir
Angst, ihn so nahe zu sehen, und ich wollte, dass er verschwand.
    »Der Abt kann dich mir nicht
wegnehmen, Moses. Ich habe dich gehört, und du hast mich gehört. Gott wollte,
dass wir uns treffen.«
    Wieder berührte er meine Kehle, dieses
Mal mit der ganzen Hand, als wolle er mich ersticken. Aber seine kalte
Berührung war sanft. Ich schluckte heftig.
    »Ich kann deine Stimme öffnen, Moses.
Und das werde ich. Wir können diese Abtei verlassen, wenn du das willst. Wir
können dorthin zurückgehen, wo

Weitere Kostenlose Bücher