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Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells

Titel: Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Harvell
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du herkommst. Aber hör mir zu, Moses: Zwar will
dich der Abt in ein schmutziges Arbeitshaus stecken, aber wenn ich es sage,
wird er dir den größten Luxus geben, von dem ein Junge wie du nur träumen kann.
Denn die Menschen brauchen Leute wie dich und mich, Moses.«
    Als er mir die Worte ins Ohr
flüsterte, spürte ich die Wärme seines Gesichts an meiner Haut. »Sie brauchen
uns genauso, wie sie ihr Gold und ihre schönen Kirchen und ihre Bibliotheken
brauchen. Möchtest du Nicolai wiedersehen? Möchtest du hierbleiben? Oder
möchtest du fortgehen? Mir ist alles recht. Ich wohne mit dir in einem
Pferdestall, sollte das dein Wunsch sein. Aber wenn du bleiben willst, musst du
singen.«
    Ulrich von Güttigen sang gedämpft die
Melodie, die ich an diesem Morgen in der Kirche gehört hatte. Seine Stimme war
nicht warm wie die Stimmen, die ich zu begleiten versucht hatte, aber sie
bewegte sich leicht und präzise von einer Note zur nächsten. Wenn Nicolai sang,
durchdrang der Klang seinen ganzen Körper. Im Gegensatz dazu war Ulrich von
Güttigen wie eine schlecht gebaute Violine, deren Saiten perfekt schwingen,
deren Korpus aber eine so schwache Resonanz wie ein Weinfass hat.
    War es etwa das, was Nicolai gemeint
hatte? War das hier Gottes Absicht? Ich hatte von etwas anderem geträumt, etwas
weniger Abstoßendem als diesem klanglosen Mann mit seinen inständigen Bitten.
Aber vielleicht war Gott nicht ganz so gut und vollkommen, wie der Abt
behauptete, und dieser Mann war alles, was Er mir zu bieten hatte.
    Also sang ich.
    Ich wählte eine Stimme, die ich aus
der Kirche erinnerte. Zuerst waren meine Noten weich und unsicher, aber ich
spürte, dass der Klang auf dieselbe Weise aus meinem Hals nach außen drang, wie
sich das Läuten einer Glocke schnell über das Metall ausbreitet. Der Klang
bewegte sich an meinem Kiefer entlang bis zu den Einbuchtungen unter meinen
Ohren. Ich spürte ihn in meinem Rücken und in meinem Nabel. Ich sang keine
Worte, nur Laute.
    Ulrichs schwache Stimme verstummte,
als meine lauter wurde. Er hielt immer noch meinen Hals, und dann bewegte sich
seine forschende Hand nach unten. Wie das kalte Instrument eines Arztes strich
sie von meinem Kinn zur Brust, und in diesem Augenblick spürte ich, dass er
recht hatte: Seine Hand schien mich zu öffnen. Die Berührung ließ meine Laute
voller werden – so wie die läutenden Glocken meiner Mutter. Er nahm seine
zweite Hand dazu und er streichelte mein Gesicht, meine Brust. Die Hände legten
sich auf meinen Rücken und hielten mich fest, als wollte er, dass der Klang von
mir in seine gelblichen knochigen Arme, in seine leere Brust floss. Ein
Schluchzen entrang sich seinem Mund, obwohl er keine Tränen in den Augen hatte.
Und dann trat er zurück, erhob sich für einen Moment auf die Zehenspitzen,
schloss die Augen und verdrehte heftig den Kopf, als würde er von einem
plötzlichen Schmerz durchzuckt.
    Ich hörte auf.
    Er stolperte zurück und lehnte sich
gegen das Cembalo, als trügen ihn seine Beine nicht mehr. Er heftete den Blick
auf mein Gesicht – und ich erkannte, dass in seinen Augen Angst lag. »Mein
Gott«, sagte er. »Ich bin verdammt.«

X.
    Und so begann mein
Gesangsleben. Eine letzte Nacht verbrachte ich auf Nicolais Ottomane, und bis
in die frühen Morgenstunden sprach er von meinem glänzenden Geschick. »Du musst
nicht mehr in einem Zimmer mit einem alten schnarchenden Mönch schlafen«, sagte
er und lächelte dabei so traurig, dass man hätte denken können, ich würde sehr
weit wegziehen und nicht nur zwei Stockwerke unter ihm wohnen. »Du wirst
Freunde in deinem Alter finden, mit denen du spielen kannst. Ihr werdet lachen
und herumrennen. Nachts werdet ihr euch Geheimnisse zuflüstern.«
    Selbst nachdem Nicolai zu schnarchen
begonnen hatte, lag ich noch wach. Sein Optimismus hatte mich angesteckt. Nie
hatte ich mir etwas gewünscht, als ich noch bei meiner Mutter lebte, aber jetzt
wurde mir klar, dass ich Freunde haben könnte. Würden wir Spaß haben? Würden
wir miteinander spielen wie die Kinder im Dorf? Würde ich anfangen zu sprechen?
    Am nächsten Morgen packte Nicolai ein
Päckchen mit zwei Äpfeln, ein paar Nüssen und einem Rosenkranz und drückte es mir
in die Hand. Er öffnete die Tür seiner Zelle und winkte mich heran. Ich zögerte
einen Augenblick, dann griff ich nach seiner riesigen Hand und sah ihm ins
Gesicht. »Danke, Nicolai«, sagte ich.
    Seine Augen füllten sich mit Tränen.
Er nahm mich in die Arme.
    Er trug

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