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Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells

Titel: Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Harvell
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Ich drehe mich um und sehe sie an; die
Augenbinde aus Seide, vom Regen in ein dunkles Purpurrot verwandelt, schlingt
sich durch ihre Haare und hängt auf ihren Rücken herunter. Offenbar spürt sie
die Hitze, und die heißen Kohlen scheinen sie anzuziehen.
    Hört sie im Geiste, wie ihre Tante
Karoline ihre Schande mit herben Worten voraussagt? Sicher fragt sie sich auch: Wer ist dieser Mann? Wer ist das, den ich durch die
Augenbinde nicht sehen kann? Ist es das Ende meiner Einsamkeit? Wo ist das
kleine Mädchen, das stundenlang geduldig am Bett ihrer Mutter gesessen hat?
Soll dieses Mädchen heute Nacht wieder zum Leben erweckt werden? Oder werde ich
es gleich für immer verlieren?
    Und in meinem Kopf: Mein Körper ist eine Qual. Ich kann nicht lieben, und niemand kann
meinen Körper lieben. Wie kann ich es wagen, sie anzulügen? Wie kann ich es
wagen, sie in dieses schreckliche Haus zu bringen? Ich sollte ihr die Binde von
den Augen reißen – bevor sie sich in mich verliebt.
    Ich bin versucht, es zu tun.
    Ich höre das Knarren der Dielen, als
sie ihr Gewicht verlagert, höre den Rhythmus des Regens auf dem Dach über
unseren Köpfen. In einer Ecke rinnt Wasser durch ein Loch im Dach und tropft in
eine Pfütze auf dem Boden. Ich nehme ihr die Augenbinde nicht ab.
    Was mich davor bewahrt, mich ihr zu
offenbaren – was mich vor ihrem Mitleid bewahrt –, ist ein Tropfen Regenwasser.
Er fängt sich auf den nassen Haarsträhnen an ihrem Ohr und gleitet über ihre
Wange und ihren Kiefer. Er scheint sie zu kitzeln, denn sie hebt einen Finger,
und ich höre, wie dieser Finger über die glatte feuchte Haut fährt und der
Regentropfen schließlich auf einem Fingerknöchel sitzt. Und dann küsst sie den
Regentropfen. Der Laut, der dabei entsteht, scheint direkt vom Himmel zu
kommen.
    Ihre Lippen schließen sich um den
Finger. Ich nähere mich. Ihr Atem, noch schwer vom Treppensteigen, tut mir weh,
so schön ist er. Ich strecke die Hand aus und streiche über ihr Kinn, wo
Sekunden vorher ihr Finger den Regentropfen gerettet hat, und ich höre ihre
Haut wie einen warmen Wind, der durch Gräser fährt. Aber da ist auch das
Geräusch meiner Haut, die ihre berührt.
    Ihr Atem verdichtet sich zu einem
Seufzen.
    Ihre kalten Finger finden die feuchte
Haut meines Halses. Ich zittere, als sie sich in mein Haar schieben. Sie zieht
so fest, dass es wehtut, und ihr Mund verzerrt sich, als fühle auch sie den
Schmerz. Aber dann entspannen sich ihre Lippen und sie zieht mein Gesicht zu
sich heran. Es ist ein ungeübter, aufgeregter Kuss, in dem sich unsere Laute
vermischen. Ich spüre die Vibration ihres Stöhnens in meiner Zungenspitze.
    Sie zerrt an meiner Kapuze, als wolle
sie sie abreißen. Ich ziehe mir die Kukulle über den Kopf und lasse sie fallen.
Dann zerrt sie an meiner Tunika. Als ich ihr helfe, ihr Kleid in die Höhe zu
schieben, lege ich meinen Kopf an ihre Brust. Klopf-klopf,
klopf-klopf. Ihre Hände zittern, als sie
ihr Mieder lockert und aus den letzten Resten des feinen weißen Stoffs steigt.
Dann trägt sie nichts mehr als die rote Augenbinde. Ihre blasse, feuchte Haut
fröstelt, aber ich betrachte sie einen Augenblick, bevor ich sie umarme.
    Ich presse meinen Kopf an ihre Brust,
um diesem Herzen so nahe wie möglich zu kommen, und dann höre ich den Atem in
ihren Lungen. Er stöhnt wie ein Wind in einer riesigen feuchten Höhle, und bei
jedem Einatmen steigt er hinauf zu einem Seufzen.
    Die erste kühle Berührung mit der
feinen Bettwäsche der Abtei lässt uns die Luft anhalten, aber dann ist sie so
warm und wir schweben darin, tasten nach einander. Sie streicht über meine
Brust, als hätte sie nicht gewusst, wie groß ein Körper ist. Sie greift nach
dem letzten Kleidungsstück, das ich trage – ein Tuch, das fest um meine Mitte
gewickelt ist wie eine Bandage –, aber ich ziehe ihre Hand weg, denn dort darf
sie mich nicht berühren.
    Sie keucht, als meine Hand unter ihren
Nabel wandert. Als ich ihre Schulter küsse, atmet sie aus. Die Laute, die sie
von sich gibt, scheinen aus meinem eigenen Kopf zu kommen. Sie keucht noch
einmal. Meine Hände streifen über ihre Brüste und ertasten die sanfte Rundung
ihres Bauches. Sie drücken die vorstehenden Knochen ihrer Hüfte. Ihr Atmen ist
wie ein Weinen, als meine Finger die Narbe nachziehen, die von ihrer Wade über
die Kniekehle bis zur weichen Innenseite ihres Schenkels verläuft. Ihre Hände
ziehen an meinen, aber ich brauche keine Anleitung, weil ihr Atem, ihr

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