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Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells

Titel: Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Harvell
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unmöglich«, sagte sie.
    »Bitte, Amalia. Glaub mir.«
    Sie legte ihre Hand auf meine
Schulter, und ich spürte, dass die Berührung mich prüfte, als versuchte sie, mit
den Händen zu sehen und mich am Heben und Senken meiner Schulterknochen zu
erkennen. Ich wand mich unter ihrer Berührung.
    »Wollen wir etwa die ganze Nacht durch
den Regen gehen?«, fragte sie.
    »Nein«, sagte ich. »Wir haben ein
Ziel.«
    »Kann ich die Augenbinde dort
abnehmen?«
    »Nein.«
    »Wann kann ich sie abnehmen?« Ihre
Hand wanderte über meine Schulter.
    »Du kannst sie nicht abnehmen.«
    »Nie?«
    »Nicht, wenn wir zusammen sind.«
    »Oder du wirst verschwinden?« Ihre
Finger glitten prüfend über die Muskeln an meinem Hals.
    »Ja.«
    »Aber ich dachte, du bist Orpheus.«
    »Was?«
    »Du hast die Geschichte
durcheinandergebracht, Moses.«
    »Welche Geschichte?«
    »Orpheus und Eurydike.«
    »Wer ist das?«
    »Lernst du nichts in der Abtei?
Orpheus war der Sohn eines Königs und der Muse Kalliope«, sagte sie auf, als
läse sie aus einem Buch vor. Ihre Hand erforschte die Erhöhungen meiner
Wirbelsäule. »Ein Mann wie kein anderer: schön und stark. Aber mehr noch, er
war der größte Sänger, der je gelebt hat. Eurydike war seine Frau«, sagte sie.
Sie blieb stehen. Sie drehte mich zu sich um, damit sie meinen Hals mit beiden
Händen erforschen konnte. »Eurydike stirbt, aber Orpheus zähmt die Furien in
der Unterwelt mit seinem Gesang und bekommt sie zurück, jedoch unter einer
Bedingung: Er darf sich nicht umdrehen und sie ansehen, solange sie in der
Unterwelt sind. Wenn er es tut, stirbt sie noch einmal und er verliert sie für
immer. Ist es so?«
    »Ja«, sagte ich, und die Worte ein Mann wie kein anderer hallten in meinem Kopf wider. Meine Täuschung war vollkommen.
    »Dann brauchst du also die Augenbinde,
Orpheus.«
    »Du willst nicht, dass ich dich
ansehe?«, fragte ich, einen Kompromiss ahnend.
    »Natürlich will ich das. Ich will,
dass du mich ansiehst«, sagte sie. Sie streckte ihren Kopf nach oben, und die
Andeutung eines Lächelns spielte auf ihren Lippen. »Gut«, fuhr sie fort. Sie
hielt meinen Kopf fest in beiden Händen. »Ich trage die Augenbinde. Aber du
musst erlauben, dass ich dich berühre. Hör auf zu zappeln.«
    Ihre Hände erforschten meine
verborgene Schande: die leichte Rundung meiner Wangen, meine zarte Nase, meine
schmale Stirn, meine Haut, die so weich und unbehaart war wie die eines Babys.
Ihre Hände berührten all das und berührten es noch einmal, während der Regen
mein Gesicht und ihre Hände kalt und nass werden ließ. Ihre linke Hand wanderte
zu meinem Hals – wo mein Adamsapfel hätte sein sollen – und blieb dort liegen.
    »Wovor hast du Angst?«, fragte sie.
    »Angst?«
    »Dein Herz schlägt, als hättest du
Angst vor mir.«
    Ich lauschte auf mein Herz und
versuchte, es langsamer schlagen zu lassen. Aber es gehorchte mir nicht mehr.
Sanft schob ich ihre neugierigen Hände weg und drängte sie weiter in die Nacht.
    Bald hörte ich den dreistrahligen
Brunnen und stellte erleichtert fest, dass wir in die richtige Richtung gingen.
Als ich sie vor Ulrichs Tür stehen bleiben ließ, wandte sie den Kopf, als
wollte sie durch die Augenbinde hindurchsehen. Ich schloss die Tür auf und
führte Amalia in Ulrichs Zimmer. Er saß wie üblich mit gesenktem Kopf an seinem
Tisch, aber als wir eintraten, fuhr sein Kopf überrascht in die Höhe. Ich
sorgte mich, dass sie ihn hören würde, aber er machte nicht mehr Lärm als der
Rauch, der an der Ofentür wirbelte.
    »Komm mit«, sagte ich, während Ulrichs
leere Augen uns durch den Raum folgten.
    Als wir in der Dunkelheit zum
Dachboden hinaufstiegen, war ich genauso blind wie sie. Meine rechte Hand hielt
ihre rechte Hand, meine linke stützte sie im Kreuz, damit sie nicht stürzte.
Die hohen Stufen waren beschwerlich für ihr lahmes Knie, das sie nicht beugen
konnte.
    Auf dem Treppenabsatz tastete ich nach
der Tür – fand sie beim dritten Versuch – und öffnete sie. Warme Luft trocknete
unsere regennassen und kalten Gesichter. Das Glühen des Ofens reichte, um mich
das Schwarz des großen Tisches, das Weiß des Bettes und die Frauenporträts als
dunkle Rechtecke an der Wand erkennen zu lassen.
    »Moses?«
    Mit der Hand in ihrem Kreuz schob ich
Amalia in den Raum und schloss die Tür hinter uns.
    Hinter dieser Tür ist zuerst nur
Stille. Wir stehen vor dem Ofen, Tropfen fallen von meinen durchweichten Ärmeln
und bilden kleine Pfützen auf dem Boden.

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