Der katholische Bulle: Roman (German Edition)
ländlichen Nordirland noch ein vollkommen anderer Planet war. Kein Telefon, kein Strom, die Leute fuhren mit Pferdekarren herum, benutzten Torf zum Kochen und Heizen, und sonntags ruderten oder segelten die verrückteren Protestanten in kleinen Dorybooten über den North Channel, um in Schottland den Gottesdienst zu besuchen.
Aye, ich bin als kleines Landei aufgewachsen, aber 1969, gerade als die Troubles ausbrachen, ging ich mit einem Vollstipendium an die Queen’s University Belfast und studierte Psychologie. Ich liebte die Stadt: die Bars, die Seitengassen, die ganze Atmosphäre, und die Gegend um die Universität blieb – zumindest für eine Weile – vor der schlimmsten Gewalt verschont.
Das war die Zeit von Seamus Heaney, Paul Muldoon, Ciaran Carson, die Universität war eine kleine brennende Kerze gegen die sich immer weiter ausbreitende Dunkelheit.
Ich hatte mich gut geschlagen, wenn ich so sagen darf. Damals studierte niemand Psychologie, und ich stand glänzend da. Wegen der mangelnden Konkurrenz, nehme ich an, aber trotzdem. Ich hatte einen erstklassigen Abschluss, ver- und entliebte mich ein paarmal, publizierte einen kurzen Aufsatz über die Unzuverlässigkeit von Augenzeugenaussagen im Irish Journal of Criminology , und vielleicht wäre ich an der Uni geblieben oder hätte mir einen Job in Amerika gesucht, wenn da nicht der Zwischenfall gewesen wäre.
Der Zwischenfall – deshalb war ich jetzt hier, deshalb war ich überhaupt zur Polizei gegangen.
Ich legte auch den Rest der Uniform ab und hängte sie in den Schrank. Unter all den Sachen hatte ich geschwitzt wie ein Protestant, der sich ins Hochamt verirrt hatte, also duschte ich kurz, um den Bullengestank abzuwaschen. Ich trocknete mich ab und betrachtete mich im Spiegel.
Eins achtundsiebzig. Siebzig Kilo. Langgliedrig, aber nicht muskulös. Dreißig Jahre alt, aber ich sah wenigstens wie dreißig aus, nicht wie meine Kollegen, die sechzig Zigaretten am Tag qualmten. Dunkler Hautton, dunkle lockige Haare, dunkelblaue Augen. Meine Nase war unkeltisch adlerhaft, und wenn ich mir etwas Sonnenbräune zulegte, hielten mich manche Leute anfänglich für einen französischen oder spanischen Touristen (auch wenn es gerade nicht viele dieserseltenen Vögel in der Gegend gab). Soweit ich wusste, war nicht ein Tropfen französischen oder spanischen Blutes in meiner Familie, aber in Cushendun gab es ja ständig diese dubiosen Geschichten zu hören von den Überlebenden der gestrandeten Spanischen Armada …
Ich zählte die grauen Haare.
Vierzehn.
Wieder überlegte ich, mir einen Schnurrbart à la Serpico stehen zu lassen. Wieder winkte ich ab.
Ich sah mich an und runzelte die Stirn. »Mrs Campbell, es muss ja fürchterlich einsam sein, wo doch Ihr Mann draußen auf der Nordsee ist …«, sagte ich und imitierte dabei aus irgendeinem Grund Julio Iglesias.
»Ach ja, es ist sehr einsam, und mein Haus ist so kalt …«, erwiderte die imaginäre Mrs Campbell.
Ich lachte und zog, wohl als Tribut an die mythische iberische Herkunft, mein Che-Guevara-T-Shirt an, das Jim Fitzpatrick extra für mich gedruckt hatte. Ich kramte eine alte Jeans und meine Adidas-Sportschuhe hervor. Dann zündete ich oben den Petroleumofen an und kam wieder herunter.
Ich schaltete das Licht an, ging in die Küche, nahm ein Bierglas aus dem Gefrierschrank und füllte es halb mit Limettensaft. Dann gab ich ein paar Eiswürfel hinzu und trug das Glas ins vordere Zimmer: die gute Stube, das Wohnzimmer, den Salon. Aus irgendeinem geheimen Protestantengrund nutzte niemand in der Coronation Road dieses Zimmer. Dort deponierten sie das Klavier, die Familienbibel und die harten Stühle, die nur benutzt wurden, wenn es hohen Besuch gab, Polizisten oder Pfarrer.
Für solchen Blödsinn hatte ich nichts übrig. Ich hatte hier meinen Fernseher und die Stereoanlage aufgebaut, und obwohl ich noch ein wenig dekorieren musste, war ich mit dem bisher Erreichten schon ganz zufrieden. Die Wände hatte ich in einem für die Coronation Road untypischen mediterranenBlau gestrichen und ein paar – meist abstrakte – Originale aufgehängt, die ich mir in der Polytech Design School gekauft hatte. Mein Bücherregal war voller Romane und Kunstbände, und daneben stand eine stilvolle Lampe aus Schweden. Ich hatte schon einen Entwurf vor Augen. Nicht meinen Entwurf, zugegeben, aber einen Entwurf. Vor zwei Jahren hatte ich bei Gresha gewohnt, einer Freundin aus Cushendun, die Anfang der Siebziger vor den
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