Der katholische Bulle: Roman (German Edition)
nicht sehen können, weil Lucy gar nicht nach Belfast gewollt hatte. Sie war auf dem Bahnsteig gewesen – auf dem anderen. Der Typ im Wagen hatte sie warten sehen, aber sie hatte auf der anderen Seite der Gleise gewartet. Sie hatte ihre Ma angelogen. Sie wollte nicht nach Belfast, sie fuhr nach Larne.
Sie wollte nach Larne, um die Fähre nach Schottland zu nehmen. Um abtreiben zu können.
Was hatte sie gesagt? »Vielleicht bleibe ich bei Freunden, aber am Weihnachtsmorgen bin ich wieder da.«
Zug nach Larne, Fähre nach Stranraer, Zug nach Glasgow. Abtreibung. Über Nacht im Krankenhaus. Zug nach Stranraer. Fähre nach Larne. Zug nach Carrickfergus. Zu Weihnachten daheim. Sie hatte eine Abtreibung geplant. Aber irgendetwas war schiefgelaufen. Stattdessen war sie verschwunden.
Ich warf die Kippe in den Gleisschotter und ging die Taylor’s Avenue und die Barn Road entlang nach Hause.
Trotz des schlechten Wetters machte die DUP Wahlkampf im Victoria Estate. Dr. Ian Paisley stand höchstpersönlich auf einem Kohlelaster. »Lasst nicht zu, dass die britische Regierung das Knie vor Terroristen beugt! Wählt DUP!«, tobte Paisley mit der Stimme eines alttestamentarischen Propheten. Hinter Paisley stand Stadtrat George Seawright, der ursprünglich aus Glasgow stammte und nun der militanteste und verrückteste der aufgehenden Sterne bei der DUP war. Dutzende von Sicherheitsleuten stapften neben dem Laster her. Dahinter rollte ein weiterer Kohlelaster, beladen mit Kartons voller Nahrungsmittel und Milch, die an alle verteiltwurden, die etwas haben wollten. Auf den Kartons stand »EWG-Überschuss. Nicht für den Verkauf bestimmt.«
Bobby Cameron winkte mich zum Laster heran. »Magst du Schinken?«, fragte er.
»Wer nicht?«
»Die verdammten Moslems und Juden. Hier«, sagte er. Er bot mir einen Karton mit deutschem Schinken an. Ich schüttelte den Kopf. »Na los«, beharrte er.
»Danke«, sagte ich und nahm den Karton. »Ach, Bobby, hör mal, die Zeiten sind hart, vielleicht solltest du noch mal die Schutzgelder überdenken, die du hier in der Gegend verlangst.«
»Haben sich Leute bei dir beschwert?«
»Nein, niemand, aber die Zeiten sind hart.«
Ich beließ es dabei und ging nach Hause. Den Schinken legte ich in den Kühlschrank, schnappte mir irgendein Buch, legte Liege and Lief auf, ging nach oben, zündete den Ofen an und ließ Badewasser ein.
Ich dachte an den Burschen. An das, was gerade geschehen war. Ich konnte es nicht leugnen. Was zum Teufel habe ich getan?, fragte ich mich. War ich eine Schwuchtel? Ein Schwuli? Eine Tunte? Na …?
Anders als diese verrückten Protestanten brauchte ich jemanden zum Reden, aber es war niemand da. Ich wärmte den Rest des Cannabis auf, krümelte ihn auf ein Blättchen mit Tabak und setzte mich in die Wanne. Ich rauchte den Joint, schwebte auf den Petroleumdämpfen dahin und schlug das Buch auf. Es handelte sich um einen Band mit deutschen Gedichten, ein Geburtstagsgeschenk von einem Onkel, das ich noch nie aufgeschlagen hatte.
Ich las Goethe, Schiller, Novalis.
»Nach innen geht der geheimnisvolle Weg«, schrieb der Dichter.
Wie wahr.
14
DAS APARTMENT
Und dann … nichts. Vierundzwanzig Stunden lang nichts. Im Leben eines Polizisten ist das nichts Ungewöhnliches. Alle Mann auf Station, Alarmstufe Rot, 160 km/h, dann nada . Noch so ein Grund, warum man ein gutes Buch brauchte.
Nada in unserem Falle hieß keine Spuren, keine weitere Entwicklung, keine Zeugen, keine Tipps, keine anonymen Anrufe. Wahrscheinlich war die Homosache das Problem. Niemand wollte einen Hinweis zu einem Schwulenmord loswerden. Nicht alle in Ulster waren so durchgeknallt wie Seawright, aber das hier war Nordirland im Jahre 1981, also nur unmaßgeblich weniger konservativ als, sagen wir, Salem 1692. Wenn man etwas über solche Dinge wusste, dann hieß das womöglich, man war selber schwul.
Die Routine hielt uns beschäftigt. Ich suchte unter meinem Wagen nach Bomben und fuhr zur Arbeit. Wir komplettierten Akten, hefteten Berichte ab. Ich rief beim Straßenverkehrsamt an und fand heraus, dass Shane tatsächlich einen Käfer fuhr. Ich nervte Special Branch so lange wegen Tommy Little, bis ein Chief Superintendent mich anrief und erklärte, dass ich auf dem falschen Dampfer sei, dass die Informationen der Staatspolizei sehr gut seien, und dass Tommy Little nur ein kleiner Player im großen Spiel gewesen war, wenn überhaupt.
Wir befragten Lucy Moores Freunde persönlich, bekamen aber nichts
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