Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Kaufmann von Lippstadt

Der Kaufmann von Lippstadt

Titel: Der Kaufmann von Lippstadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rita Maria Fust
Vom Netzwerk:
im Lippstädter Archiv gelesen, aus denen hervorgeht, dass er, also Ferdinand Overkamp, nach und nach alles verloren hat. Pfändungen und Verkäufe, um Schulden zu begleichen. Im Oktober 1765 hat er dann sein Haus verkauft, wahrscheinlich verkaufen müssen. Dann verliert sich seine Spur in Lippstadt. Anscheinend ist er mit Frau und Kindern hier nach Lübeck zu seiner Schwester gekommen«, fasst Oliver zusammen. »Also, es ist wahrscheinlich, dass er 1765 hier angekommen ist. Was sollte er sonst gemacht haben? Und wo sollte er sonst gelebt haben? Jetzt, wo ich so darüber nachdenke, vermute ich, dass ihm nicht viele Kinder geblieben sein können, die mit nach Lübeck gekommen sind. Ich weiß von vier toten Söhnen, und in diesem Tagebuchauszug steht, dass eine seiner Töchter, hier nur genannt ›T‹, 1765 auf dem hiesigen Armenfriedhof bestattet wurde. Fünf tote Kinder, das muss man sich mal vorstellen!«
    »Mein Gott, der arme Mann! Wie entsetzlich! Allerdings müssen Sie sich darüber im Klaren sein, dass Kindersterblichkeit im 18. Jahrhundert noch recht häufig vorkam. Es waren andere Zeiten. Andere medizinische und hygienische Voraussetzungen. Denken Sie an die preußische Königin Luise. Von zehn Kindern haben sieben überlebt. Das war sensationell zur damaligen Zeit – und das war schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Sie befinden sich ja gedanklich in der zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts«, erinnert ihn der Archivar.
    »Ja, so kann man das sagen«, räumt Oliver lächelnd ein und denkt an Annika. Das ist Wasser auf ihre Mühlen.
    »Also, dieser Brief ist das Erste, was Sie von Ihrem Overkamp haben, richtig?«, vergewissert sich der Archivar.
    »Ja.« Oliver nickt. ›Mein Overkamp!‹, als ob Annika hier wäre. Er musste sie unbedingt gleich anrufen. Unbedingt.
    »Eine unverheiratete und dennoch schwangere Tochter war damals eine große Schande für die ganze Familie. Heute würde man von einem Super-GAU sprechen. Obwohl es heute natürlich niemanden mehr interessiert, ob jemand ehelich oder unehelich geboren wird. Zum Glück. Ich kann aber nicht erkennen, was Ihren Overkamp ruiniert hat«, überlegt der Archivar.
    »Ich weiß es auch nicht. Irgendetwas muss er getan haben. Hier steht: ›Für meine Schuld gibt es keine Strafe‹«, rätselt Oliver. »Wie oder wodurch ist er bloß schuldig geworden?«
    »Am besten sprechen Sie im Lippstädter Archiv noch mal vor. Schauen Sie sich alles an, was zwischen Mai 1764 und Oktober beziehungsweise November 1765 dort passiert ist. Nein, warten Sie. Von wann ist die erste Aktennotiz, also, dass Overkamp etwas verkaufte?«
    »Auswendig weiß ich es nicht«, gibt Oliver zu.
    »Es muss etwas geschehen sein zwischen Mai 1764 und der ersten Aktennotiz«, überlegt der Archivar. »Also noch vor Mai 1764. Vielleicht hat sich Ihr Overkamp verspekuliert. Wenn wir in Hollywood wären, hätte er seinen Gegner eiskalt abgeknallt. Peng. Tot. Thema erledigt – oder auch nicht.«
    »Wir sind im beschaulichen Lippstadt. 1764 oder ’65. Da knallte man niemanden ab. Ich stelle mir die Menschen in Westfalen so friedlich vor. Preußische Tugenden – und stur. Aber nein, das sagt man ihnen nur nach, so sind sie gar nicht«, erzählt Oliver und denkt wieder an Annika. Stur. Ist Annika stur? Sie ist verletzt, und sie weiß, was sie will. Oder besser: sie weiß, was sie nicht will: Olivers Geheimniskrämerei.

    69 Fiktiv
    70 Fiktiv.

24ter Junij 1764
    Auf dem kurzen Weg von der Großen Marienkirche zur Kirchgasse begegnet die Familie Overkamp dem Schuster Caspar Engerling.
    »Guten Morgen, Madame, gnädiger Herr«, grüßt dieser freundlich in die Runde. »Gestern war ein kräftezehrender Tag an der Lippe«, und mit einem bedeutungsvollen Blick zu Ferdinand Overkamp fügt er hinzu: »Manche haben sogar noch nach Einbruch der Dunkelheit geschuftet.«
    »Fürwahr«, antwortet Overkamp knapp. Sein Herz beginnt zu rasen.
    »Es gibt ja so viel zu tun. Und wenn man schon einmal dabei ist und sich ohnehin die Hände schmutzig gemacht hat, warum sollte man nicht gleich alles erledigen? Nägel mit Köpfen machen, könnte man sagen.« Engerling scheint zu plaudern, doch Overkamp ahnt, dass mehr dahintersteckt. Ihm bricht der Schweiß aus.
    »Schuster, bleib bei deinen Leisten!«, zischt Ferdinand Overkamp und wirft Caspar Engerling einen warnenden Blick zu.
    »Ich komme morgen früh zu Ihnen ins Kontor, wir haben etwas zu besprechen. Einen angenehmen Sonntag wünsche ich!« Mit einer

Weitere Kostenlose Bücher