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Der Kaufmann von Lippstadt

Der Kaufmann von Lippstadt

Titel: Der Kaufmann von Lippstadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rita Maria Fust
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Overkamp.
    »Ungewöhnlich. Wo mag er hingegangen sein?«, überlegt Dr. Rose. »Könnte es sein, dass ihm die Zunge gehört? Sie erinnern sich? Die Zunge, die jemand an die Rathaustür genagelt hat? Dr. Buddeus glaubt, dass der Mensch an dieser Verletzung gestorben sein muss, wenn er nicht schon vor dem Heraustrennen der Zunge tot war. Aber wir haben keine Leiche.«
    »Was soll ich sagen? Ich … ich habe auch keine Leiche …«, stammelt Overkamp und denkt an Köpner – und Engerling, dessen Tod nur noch eine Frage der Zeit ist. Overkamps Gesicht beginnt zu glühen. Hoffentlich bin ich nicht rot geworden und habe dadurch etwas verraten, befürchtet Overkamp.
    »Überlegen Sie mal in Ruhe. Gehen Sie in Ihre warme Stube – die ist doch wirklich warm? – und ich gehe ins Rathaus«, sagte Dr. Rose und wendet sich zum Gehen. »Ob Ihr Diener wohl Ärger mit dem jungen Thiemeyer hatte? Sie wissen, dass Bernhard Buersmeyer zufällig an der offenen Türe der Backstube stand, als der Bursche Thiemeyer seinem Meister, dem Buddeberg, von dem Pulverangebot am Cappel Tor erzählte? Ohne Buersmeyer wäre dem jungen Bäckerburschen einiges erspart geblieben. Auch dem Kaufmannsdiener Plange, dem Cluse­pförtner Küchenmeier und dem Stadtdiener Pape. Das hat vielen nicht gefallen, dass der Buersmeyer gelauscht und die Angelegenheit in Umlauf gebracht hat.« Die Klinke in der Hand dreht er sich noch einmal um. »Werter Herr Overkamp. Ich mache mir Sorgen um Sie. Was geschieht mit Ihnen? Früher waren Sie eine stattliche Erscheinung, ein Mann von Größe und Stärke. Und nun? Sie sind hager und beinahe ausgemergelt. Im Gesicht hat Ihre Haut tiefe Sorgenfalten. Ringe unter Ihren Augen, die bei Weitem nicht mehr so strahlen wie einst. Sie sitzen in Ihrem kalten Kontor und verlieren alles. Wieso lassen Sie das zu? Das scheint mir nicht mit rechten Dingen zuzugehen. Wenn Sie wünschen, vertrauen Sie sich mir an. Sie wissen, wo Sie mich finden.«
    Ohne eine Antwort abzuwarten, verlässt Dr. Rose das Kontor. Draußen in der Kirchgasse wird der Schnee vom Wind aufgewirbelt. Er schlägt seinen Kragen hoch und eilt in die warme Amtsstube im Rathaus.

    »Herr Clüsener, was machen wir nur mit unserem werten Herrn Overkamp? Man muss dem Mann doch helfen. Und der gnädigen Frau natürlich. Und den beiden Kindern. Nicht auszudenken, was im Hause Overkamp geschieht«, klagt der Bürgermeister.
    »Dr. Rose, Sie sind zu hilfsbereit. Der Overkamp ist selbst schuld. Ich hoffe, er verliert noch mehr. Am liebsten würde ich sein Haus ersteigern. Das wäre was!«, freut sich der Stadt-Syndicus.
    »Clüsener! So etwas sagt man nicht!«, schimpft Bürgermeister Dr. Rose und beendet das Gespräch mit Clüsener.

    Die Eheleute Overkamp stehen in der guten Stube vor dem Kaminofen und wärmen ihre Hände, als Agnes, die junge Magd, mit einer Meldung den Raum betritt. Diese sei aus Lübeck und soeben erst angekommen. Mit einem leichten Knicks überreicht sie die Nachricht Herrn Overkamp.

    Verehrter Herr Vater, verehrte Frau Mutter,
    am 1. Januar habe ich einen Jungen zur Welt gebracht. Ferdinand Caspar Theodor Overkamp heißt er. Noch schwächeln wir ein klein wenig, aber wir werden schon noch zu Kräften kommen.
    Aufrichtige Grüße
    Ihre Elisabeth

    »Einen Jungen, wie zauberhaft«, freut sich Johanna. »Und gesund sind die beiden. So viel Sorgen habe ich mir gemacht, jetzt bin ich erleichtert. Ferdinand, ich wünschte, wir könnten zu ihr fahren. Der Junge heißt wie die Männer unserer Familie; das macht Sie stolz, nicht wahr? Bitte, bitte, lassen Sie uns hinreisen«, fleht Johanna überglücklich.
    »Nein, ich habe keinen Enkel«, sagt Overkamp knapp.
    »Was? Sie brauchen es doch in Lippstadt niemandem zu sagen. Ich bitte Sie«, sagt Johanna unter Tränen. »Wir könnten sagen, wir besuchen Katharina, Ihre Schwester, oder Matthiesen. Das wird Ihnen geglaubt, da er doch noch vor einem halben Jahr hier unser Gast war«, sucht Johanna händeringend nach einer Lösung.
    »Ich habe keine Tochter namens Elisabeth und einen Enkel schon gar nicht«, beendet Ferdinand Overkamp das Gespräch und verlässt die warme Stube. Die Kälte im Kontor setzt ihm nicht so zu wie die Gefühlsduselei seiner Gemahlin. Als sei dieses Kind ein ehrenhaftes, auf das er stolz sein könnte! Nein, wahrlich nicht. Dieses Kind hat schließlich sein Leben und das seiner anderen Kinder auf dem Gewissen. Gottlos. Wer wird so ein Kind schon taufen? Wie friedlich wäre doch sein Leben

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