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Der Kaufmann von Lippstadt

Der Kaufmann von Lippstadt

Titel: Der Kaufmann von Lippstadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rita Maria Fust
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zu nehmen. Dass sie letzten Sommer nach der großen Explosion vom Emaille-Geschirr hat essen müssen, sei schlimm genug gewesen. Aber jetzt in der Küche zu sitzen und zu speisen, das gehe zu weit. Das werde sie nicht machen, komme, was wolle, hat sie ihren Gemahl wissen lassen. Er soll die beiden Kleinen mit in die Küche nehmen, sie müssten schließlich essen, um bei Kräften zu bleiben. Sie selbst werde nicht mehr essen. So nicht!
    In der Küche ist es trotz allem gemütlich, und die Tür zu dem kleinen Kräutergarten ist weit geöffnet. Die Vögel zwitschern, und helles Grün sprießt. Ferdinand Overkamp sitzt schweigend mit seinen lachenden Kindern am Tisch. Sie spielen: ›Ich sehe was, was du nicht siehst‹. »Es ist rot«, ruft die kleine Theresia. »Wo, ich kann es nicht sehen!«, fragt der kleine Friedrich und springt im selben Augenblick auf, in dem Agnes den großen Topf mit kochender Brühe vom Herd nimmt. Friedrich stößt mit dem Kopf darunter und wird von der brodelnden Brühe übergossen. Der Kleine schreit nur kurz, die anderen lang anhaltend. Es dauert nur einen Moment, bis Johanna hastig die Küchentür aufreißt. Als sie die verbrühte Haut ihres Sohnes sieht, sinkt sie, ohne einen Laut von sich zu geben, zu Boden.
    Als Dr. Buddeus nach nur wenigen Monaten wieder einen Todesfall im Hause Overkamp feststellen muss, fehlen ihm die Worte, obwohl ihm Kondolenzen vertraut sind.
    »Gehen Sie zu Tilemann in die ›Einhorn-Apotheke‹. Er wird Ihnen geben, was Sie brauchen«, empfiehlt Dr. Buddeus. »Ich stelle Ihnen ein Rezept über ein stärkendes Pulver aus, und lassen Sie sich Baldrian und Riechsalz geben. Das Kind, welches Ihre Gemahlin zu erwarten schien, hat sie verloren. Der entsetzliche Schreck und der Sturz auf den harten Boden haben zur Folge, dass sie stark blutet«, erklärt Dr. Buddeus. »Da kann nur Gott mit einem Wunder helfen.«
    Auf dem Weg zurück in die Soeststraße schüttelt der Physicus unentwegt den Kopf.
    Nur acht Jahre alt ist der kleine Friedrich geworden. Ein Kind sollte gar nicht erst geboren werden. Jetzt haben die Eheleute Overkamp nur noch ihre älteste Tochter Elisabeth in Lübeck und ihre jüngste, die dreijährige Theresia. Wen wundert es, dass Overkamp immerzu klagt und sich fragt, warum Gott ihm seine Söhne nimmt. Jetzt hat Gott alle vier Söhne. Alle vier Söhne des Overkamps tot. Tot!, denkt Dr. Buddeus und schüttelt erneut den Kopf. Unfassbar. Welche Schicksalsschläge!

11. September 2010
    Nachdem Oliver Annika am Lippstädter Bahnhof abgeholt hat, schlendern sie die Lange Straße entlang, Richtung Rathaus.
    »Was ist das denn?«, ruft Annika.
    »Das sind die ›Lippstädter Holzschweine‹. Die hat der Verein ›Für unsere Kinder‹ vor Jahren gespendet. Komm, ich ziehe dich ein Stück!«
    Annika setzt sich auf das größte der drei braunen Holzschweine, die durch Seile miteinander verbunden sind. Oliver nimmt das vordere Seil und zieht gewaltig. Die schweren Steinräder setzen sich langsam, quietschend und laut rumpelnd in Bewegung.
    »Die Schweine stehen hier immer in der Langen Straße. Oft sieht man Papas ihre Kinder ein Stückchen ziehen. Aber lange Strecken legt niemand damit zurück. Die sind sauschwer – im wahrsten Sinne des Wortes.« Oliver lacht und ist außer Atem. Seine Arme sind schon lahm. »Vor Jahren war das kleine Schwein entführt worden, hat mir ein Kollege erzählt. Einfach weg. Und dann, irgendwann, tauchte es wieder auf. Ich meine sogar, dass es in Paderborn gewesen sein soll. Da bin ich aber nicht sicher«, berichtet Oliver. »Diese drei sind die inoffiziellen Maskottchen Lippstadts. Quasi Personen des öffentlichen Lebens«, erklärt er laut. Er muss fast schreien, damit Annika ihn trotz rumpelnder Schweine versteht.
    »Die sind echt süß. Dass das den Kindern gefällt, glaube ich sofort!«, meint Annika und steigt vom vorderen Schwein ab.
    Auf dem Rathaus-Platz findet an diesem Wochenende ein Gourmet-Fest statt: Lippstadt Culinaire. Köche aus Lippstädter Restaurants bieten in dem großen Zelt leckere Gerichte an. Für jeden ist etwas dabei.
    »Wir könnten mit dem mediterranen Antipasti-Teller starten. Was meinst du?«, fragt Oliver.
    »Nicht so gerne. Ich mag’s lieber deftig. Westfälisch. Die Schweinelendchen mit Kohlrabi und Kartoffeln nehme ich«, beschließt Annika, nachdem sie verschiedene Angebote studiert hat.
    »Dass du jetzt noch Schwein essen kannst, nachdem du auf ihnen gezogen worden bist«, lacht Oliver und

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