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Der Kaufmann von Lippstadt

Der Kaufmann von Lippstadt

Titel: Der Kaufmann von Lippstadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rita Maria Fust
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Abenteuerschiff vergleicht, das heute vom Stapel laufe, mit den Schülerinnen und Schülern als Besatzung, der Schulleiter sei der Kapitän.
    »Unser Kapitän …«, sagt die Elternsprecherin, und Oliver schweift mit seinen Gedanken zu seiner Oma und ihrer Geschichte vom Kapitän, der den Lübecker Hafen nicht mehr verlassen wollte. – Lübeck. Ja, da hatte diese merkwürdige Geschichte begonnen, die ihn, Oliver, nach Lippstadt geführt hat. Oder besser, dort hat die Geschichte – das Leben Overkamps – geendet. Es deutet alles darauf hin, dass der Overkamp hier in Lippstadt jemanden umgebracht und dann die Stadt verlassen hat, überlegt Oliver. Vielleicht ist Overkamp nach Lübeck geflohen. Es gefällt Oliver gar nicht, dass Ferdinand Overkamp, sein Urur…großvater, ein Mörder gewesen sein soll. Wäre er ein Spieler gewesen, okay, das wäre nicht so schlimm. Aber ein Mörder!
    Auf dem Weg von der Gesamtschule zurück zur Redaktion der LTZ fährt Oliver mit dem Fahrrad an der Lippe entlang. Der Weg ist ein Teil der Römer-Lippe-Route. Die Renaturierungsarbeiten sind weit vorangeschritten, und die Überflutungswiesen erfüllen ihren Zweck. Am Donnerstagabend ist das Tief Cathleen 98 über die Region hinweggezogen und hat so viel Regen gebracht, dass die Lippe deutlich über ihren Normalstand gestiegen ist, aber der Pegel fällt bereits wieder. An einer Stelle ist von der Uferböschung ein Stück Erde abgebrochen und vom Hochwasser fortgetragen worden. Die Wurzeln einer großen Weide liegen nun an einer Seite frei und sehen aus, als wollten sie wie Finger ins Wasser greifen. Trotz des trüben Wetters entschließt sich Oliver, ein Foto davon zu machen. So etwas sieht man nicht alle Tage. Er zoomt die Wurzeln näher heran und …
    »Oaahhh, nein, bitte nicht!«, entfährt es Oliver. Im Fokus der Kamera kann er nur zu deutlich erkennen, wie ein Schädelknochen in den Wurzeln hängt. Er tritt näher heran. Jetzt ist es unwichtig, dass seine Schuhe und seine Hose nass werden. Von Bedeutung ist jetzt einzig, ein richtig gutes Foto für die morgige Ausgabe der LTZ zu schießen. Hoffentlich kommt nicht der Typ von der Tageszeitung Der Patriot auf seinem Rückweg von der Gesamtschule hier vorbei, denkt Oliver. Ich will der Erste sein, der hierüber schreibt.
    Während Oliver auf die Polizei wartet, kommt ihm der Gedanke, dass dies die Leiche zu Overkamps Mord sein könnte. Ja, so könnte das gewesen sein. Overkamp bringt jemanden um und verscharrt ihn zwischen Lippstadt und Cappel mitten im Nirgendwo. Vielleicht steckt er noch einen Weidenast in die Erde, um aus irgendeinem Grund die Stelle zu markieren, an der der Tote begraben ist. Und aus diesem Ast könnte diese Weide geworden sein. Jeder Weidenast treibt aus, wenn er nur ein wenig Wasser hat.
    Sein Handy klingelt die Titelmelodie vom ›Tatort‹.
    »Hi, Annika, gut, dass du anrufst. Stell dir vor …« Oliver berichtet ihr sowohl die Tatsachen wie auch seine Deutung, dass es die Leiche sein könnte. »Wenn doch nur die Pathologie herausfinden würde, wie dieser Mensch ums Leben gekommen ist«, wünscht sich Oliver. »Dann wüssten wir, wie der Overkamp jemanden umgebracht hat.«
    »Oliver, langsam, du weißt doch gar nicht sicher, ob es diese Leiche ist. Vielleicht hat sie gar nichts mit damals zu tun. Vielleicht ist sie erst … Vielleicht … Vielleicht ist sie erst bei der Begradigung der Lippe zu Tode gekommen. Was weiß ich, wann das war«, sagt Annika.
    »Das kann ich dir sagen: Die Lippe war schon immer eine wichtige Wasserstraße. Preußen hat dann ab 1815 ermöglicht, dass auch Schiffe auf der Lippe fahren, bis die Eisenbahn an Bedeutung gewann und der Fluss immer weniger genutzt wurde. Als die Renaturierung 1990 begann, war …«, referiert Oliver.
    »Woher weißt du das denn schon wieder?«, fällt Annika ihm ins Wort.
    »Ich habe eine Broschüre vom Staatlichen Umweltamt Lippstadt 99 gelesen, da stand das drin. Auf jeden Fall ist der Verlauf der Lippe immer wieder verändert worden. Man hat sie begradigt und befestigt, vertieft und was weiß ich … Es könnte also sein, dass der Schädel zu Overkamps Opfer gehört.«
    »Es könnte genauso gut sein, dass er nicht in diese Zeit gehört. Oliver, du musst abwarten. Alles andere hilft nicht weiter«, beendet Annika das Telefonat, und Oliver überlegt, was sie gewollt haben konnte. Gesagt hat sie nichts, aber angerufen.

    98 Vgl.: »Cathleen« im Kreis gnädig . In: Der Patriot, 28. August 2010.
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