Der Kaufmann von Lippstadt
verlaufen, wäre dieses Kind nicht. Dieses vermaledeite … Aber es ist sein eigen Fleisch und Blut. Und trägt seinen Namen: Ferdinand Overkamp.
Die vielen Schicksalsschläge, die er seit dem letzten Sommer hat einstecken müssen, haben einzig Elisabeth und dieses Kind zu verantworten, findet Ferdinand Overkamp. Wie stolz ist er vor vielen Jahren – vor gut 17 Jahren, um genau zu sein – auf die Geburt seines ersten Kindes gewesen, obwohl es nur ein Mädchen war. Elisabeth. Und dann ist seinem einstmals kleinen Wonneproppen dieses verfluchte Missgeschick zugestoßen. So weit ist es schon gekommen, dass er sich im eigenen Kontor von Bürgermeister Dr. Rose bemitleiden lassen muss. Und es wird noch weitergehen. Der Engerling stellt ohne Unterlass Forderungen, die er, Overkamp, schon lange nicht mehr erfüllen kann. Mal fordert er 50, mal 100 Reichstaler. Nachdem der Engerling sein Land im Wein Garten ersteigert hat, ist er des Öfteren ins Kontor gekommen und hat ihn, Overkamp, an seinem Triumph teilhaben lassen. Bei jedem Besuch Engerlings frisst sich der Gram tiefer in seine Brust und schwächt Overkamp so sehr, dass es ihm bisher nicht möglich gewesen ist, einen Weg zu finden, den Engerling endlich zum Soest Tor zu locken. Bald wird es geschleift, und dann hat er jede Möglichkeit vertan, den Engerling so eindrucksvoll außer Gefecht zu setzen. In Lippstadt munkelt man, dass Justizrat Rose dort am Soest Tor ein Haus bauen wolle, doch es sei unklar, wie mit der Wallpoterne zu verfahren sei. Möglich sei, dass der Justizrat sein Haus um das Tunnelgewölbe herum baue.
Jeden Tag hängt Ferdinand Overkamp diesen und anderen Gedanken nach, vernachlässigt seine Geschäfte, macht mit niemandem neue Abschlüsse, lädt keine Gäste mehr ein, er könne sie nicht angemessen beköstigen, erklärt er kurz und schweigt wieder.
So wiederholt es sich von Tag zu Tag, von Woche zu Woche und sogar von Monat zu Monat.
7ter April 1765
In den späten Nachmittagsstunden des Gründonnerstags ist Pedell Strenger mit Stadt-Syndicus Clüsener und vier Gehilfen zu Overkamp gekommen.
»Wir pfänden heute noch Ihre Mobilien«, hat Clüsener mit einem freudigen Lächeln im Gesicht erklärt. »Sie, werter Herr Overkamp, haben so viele Schulden in der Stadt, dass uns, dem Magistrat, leider nichts anderes übrig bleibt, als zur Sicherheit Ihre Mobilien zu arrestieren. Das heißt, wir nehmen sie direkt mit.«
Overkamps Kraft hat nur für ein zaghaftes »Ja, aber …« gereicht, mit mehr konnte er sich nicht zur Wehr setzen, zumal er wusste, dass es sich um das übliche Procedere handelte, welches auch bei ihm nicht außer Kraft gesetzt werden konnte. Er ist ja nicht einmal mehr Ratsmitglied, verfügt nicht mehr über einen guten Ruf oder ein hohes Ansehen, hat keine Gelder und nun auch keine Mobilien mehr. Die gute Stube ist zur Gänze ausgeräumt worden. Johanna, seine Gemahlin, hat am Fenster gestanden und mit Tränen in den Augen immerzu geflüstert: »Dass ich das noch erleben muss!«
Schon am Mittwoch hat die gnädige Frau zu weinen begonnen, als in Lippstadt wieder einmal Jahrmarkt war und weder sie noch sonst jemand der Familie Overkamp hat hingehen dürfen. Die Zeiten seien vorbei, hat ihr Gemahl gesagt. Sie hätten kein Geld, das wisse sie, Johanna, und es sei ohnehin besser, sich nicht zum Gespött der Leute zu machen. Es werde schon genug über die Familie getuschelt. Das könne und wolle er nicht ertragen.
Am Abend haben sich die beiden Mägde erst aus dem Hause hinaus- und später wieder hineingeschlichen, damit der Herr Overkamp es nicht bemerkt. »Streng ist er geworden, herrisch, ja, gebieterisch und auch ungerecht«, sagt die eine. »Herzlos ist er«, sagt die andere.
Heute nun ist Ostersonntag. Vor Jahren hat die Familie diesen hohen Feiertag würdig begangen, hat den Gottesdienst der Großen Marienkirche besucht und anschließend gespeist. Der Tisch war mit einer weißen Damasttischdecke gedeckt und das Sonntagsgeschirr hervorgeholt. Wenn das Wetter es zuließ, sind die Eheleute Ferdinand Overkamp mit ihren Kindern durch die Stadt spaziert. Overkamp hat seinen Söhnen Caspar und Friedrich gezeigt, wie er die Steine über das Wasser der Lippe hüpfen lassen kann, während Elisabeth gemeinsam mit Johanna einen Wildblumenstrauß pflückte.
Agnes hat zum dritten Mal in Folge für die ganze Familie Overkamp den Küchentisch decken müssen. Groß genug ist er, aber die gnädige Frau weigert sich, in der Küche Platz
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