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Der Keil des Himmels

Der Keil des Himmels

Titel: Der Keil des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Horus W. Odenthal
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Aus dem Wenigen was ich erfahren habe, verstehe ich, dass sie die Grundlage der Vermittlung dieser Lehre bilden. Das Hoch-Kenan hat den Anspruch, die Welt in all ihren Aspekten zu beschreiben. Also steckt auch in seinen Symbolen der Schlüssel, wie der Text der Welt umzuschreiben ist. Daran liegt für die Loge des Einen Weges ihre Definition von Magie.“  
    Sie schob den Kasten auf und holte die Stapel von Steinen heraus. „Das hier ist kein Hoch-Kenan sondern nur ein Satz einfacher Orakelsteine.“ Sie breitete die mit jeweils zwei Symbolgruppen versehenen Rechtecke flach über die Tischplatte aus.
    „Wir wollen doch einmal sehen, wie ihre Zukunft sich in die Welt schreibt.“
    Auric beobachtete, wie sie den Ritus des Mischen, Schichtens und Gruppierens vollführte, den er schon von General Kelams Majordomus Daruun her kannte. Aus Klappern und Wandern der Steine wuchs schließlich eine zentrale Fünfer-Konstellation. Die im Rhythmus des Sturms am Deckenbalken schaukelnde Laterne ließ flackerndes Glühen über gegliederte Anordnungen von Strichen, Punkten, Kreuzen, Sternen tanzen, offen oder gefüllt, als zentrales Zeichen oder untergeordnet in der Ballung ihrer hierarchisierten Emblematik. Ihm schien es, als würden die Glyphen und ihre Einzelelemente in dem unsteten Licht einen Tanz gegeneinander, ineinander und umeinander vollführen. Wie ein Schwanken und Fallen durch verschiedene Ebenen des Flammenscheins. Etwas rührte sich in einer versunkenen Schicht seines Gedächtnisses.
    Er bemerkte das Schweigen der Vikarin.
    „Nun, was schreibt das Orakel denn nun“, sprach er sie an.
    Die Vikarin schaute auf die zentralen fünf Steine.
    „Diese Kombination verweist auf das Diktum ‚Der schmetternde Keil des Himmels zerbricht die standhafte Feste‘.“
    Diesmal war es an Auric zu schweigen.
    „Oh, dieser Wurf“, sprudelte es aus der Vikarin mit Blick auf sein Gesicht heraus, „gilt den Eingeweihten des Kenan als ambivalent und wird häufig von nur oberflächlich damit Vertrauten missdeutet. Ein sehr verbreiteter Fehler.“
    Er sah ihre Hand in die Tasche ihres Mantels schlüpfen, hörte von dort her ein Klappern.
    „Er hat“, fuhr sie ohne Innehalten und in ungebrochener Beiläufigkeit des Tons fort, „eine durchaus positiv belegte Bedeutungsebene, nämlich das Aufbrechens verkrusteter Strukturen durch äußere Einflüsse. Hätten wir jetzt die Steine des Hoch-Kenan mit seinen differenzierenden Symbolergänzungen, könnten wir Näheres sagen. Oft verweist man bei dieser Sentenz auch auf den Aspekt der Läuterung durch ein Einbrechen des Transzendentalen. Sie werden mir doch nicht etwa religiös werden, General? Gewissensbisse machen sich schlecht in ihrem Handwerk. So etwas behindert die Lebensführung und Karriere eines Soldaten ungemein.“ Das Grinsen, das ihre Lippen formten, wollte als schelmisch erkannt werden. Fahrig zog sie die Hand wieder aus der Manteltasche, strich beidhändig die Steine zusammen.
    „Wissen Sie was? Fast wünschte ich, ich hätte ihnen das Kenan nicht gelegt. Das Orakel sieht schlecht für meine Seite aus. Geschieht mir recht. Das Aufbrechen verkrusteter Strukturen ist genau das, was sie sich zu unserem Leidwesen so heftig auf ihre Fahnen geschrieben haben bei ihren ganzen fahrlässigen, unkonventionellen taktischen Pfuschereien und dem Umstoßen bewährter militärischer Prinzipien. Da kann ich nur für Sie beten – aber vor allem für mich –, dass es nicht gerade dieser Aspekt des Orakels ist, der auf sie zutrifft, sondern dass Sie stattdessen zu Inaim finden.“
    Ihre Hand fuhr wieder in ihre Tasche, wo sie anscheinend nervös mit irgendetwas herumspielte, umher würfelte.
    Irritiert wurde seine Aufmerksamkeit wie ein Eisenspan von einem Magneten zu diesem Klappern hingezogen.
    „Was tun Sie dort?“, fragte er. „In ihrer Tasche?“
    Er traf auf Verständnislosigkeit in ihrem Blick. Dann erst schien sie sich dessen gewahr zu werden, was sie tat. Die Hand in der Tasche erstarrte, als sie darauf hinabblickte, das Klappern erstarb. Ihr Blick kehrte zu Auric zurück.
    „Sie wissen aber auch gar nichts vom Aidiras-Mysterium“, sagte sie mit leicht spöttischen Lächeln.  
    Ihre Hand legte sich fest auf das polierte Kästchen, das auf dem Holz der Tischplatte lag. „Den komplettem Satz der Kenan-Steine bewahrt man zwar in den traditionellen Schatullen auf, es ist jedoch Sitte unter Aidiras-Anhängern, die Einzelsteine eines bestimmten Wurfs, der für die jeweilige

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