Der Keim des Verderbens
Schmerz und füllten sich mit Zornestränen.
»Sie haben mich doch nur einmal getroffen.« Er riss einen Finger hoch. »Ein einziges Mal bloß, und dann sagen Sie so was.« Seine Stimme bebte. »Ich steh' kurz davor, meinen Job zu verlieren.« Er hielt sich die Faust vor den Mund und wandte den Blick ab, während er um Fassung rang.
»Erstens«, sagte ich, »habe ich mit niemandem über Sie gesprochen. Nicht ein Wort.«
Er blickte auf.
»Ich habe keine Ahnung, wovon Sie sprechen.« Ich sah ihn fest an und sprach mit einer Bestimmtheit, die ihm den Wind aus den Segeln nahm. »Vielleicht könnten Sie mich aufklären?«
Er musterte mich unsicher. In seinen Augen flackerte das Mißtrauen, das Lügen über mich ihm eingeimpft hatten.
»Sie haben nicht mit Investigator Ring über mich gesprochen?« fragte er.
Ich kämpfte meinen Zorn nieder. »Nein.«
»Er war heute morgen bei uns, als meine Mama noch im Bett lag.« Seine Stimme zitterte. »Hat mich verhört, als wäre ich ein Mörder oder so was. Und dann hat er gesagt, ich soll lieber gleich gestehen, denn Sie hätten Erkenntnisse, die auf mich deuteten.«
»Erkenntnisse? Was für Erkenntnisse?« fragte ich mit wachsender Entrüstung.
»Sie hätten Fasern gefunden, die Ihrer Ansicht nach von den Sachen stammen könnten, die ich an dem Tag anhatte, als wir uns kennengelernt haben. Sie hätten gesagt, die Person, die diese Leiche zerstückelt hat, sei vermutlich genauso groß wie ich. Er meinte, Sie könnten an dem Druck, mit dem die Säge geführt wurde, sehen, daß der Täter etwa ebenso kräftig war wie ich. Er sagt, Sie würden alle möglichen Dinge von mir verlangen, damit Sie DNS Tests machen könnten. Und Sie hätten gesagt, ich hätte mich merkwürdig verhalten, als ich Sie zum Tatort fuhr .«
Ich unterbrach ihn: »Mein Gott, Keith, ich habe noch nie in meinem Leben so einen Blödsinn gehört. Wenn ich auch nur einen Satz davon gesagt hätte, würde ich wegen Unfähigkeit gefeuert.«
»Das kommt noch dazu«, ergriff Pleasants mit flammendem Blick wieder das Wort. »Er hat mit all meinen Kollegen gesprochen! Die fragen sich jetzt, ob ich vielleicht so eine Art Axtmörder bin. Das seh' ich schon an der Art, wie sie mich anschauen.«
Während er in Tränen ausbrach, öffneten sich die Türen, und mehrere Nationalgardisten betraten den Raum. Sie wurden per Knopfdruck hereingelassen und machten sich, ohne uns zu beachten, auf den Weg zur Leichenhalle, wo Fielding mit einem Verkehrsopfer beschäftigt war. Pleasants war zu erregt, als daß ich die Angelegenheit weiter mit ihm erörtern konnte, und ich war so wütend auf Ring, daß ich nicht wusste, was ich noch sagen sollte.
»Haben Sie einen Anwalt?« fragte ich ihn. Er schüttelte den Kopf.
»Ich glaube, Sie sollten sich lieber einen besorgen.«
»Ich kenne keinen.«
»Ich kann Ihnen ein paar nennen«, sagte ich, doch da kam Wingo zur Tür herein. Der Anblick des weinenden Pleasants auf dem Sofa überraschte ihn.
»Ähm, Dr. Scarpetta?« sagte Wingo. »Dr. Fielding läßt fragen, ob er schon mal die persönlichen Gegenstände der Verstorbenen zum Bestattungsunternehmen schicken kann.«
Ich trat dichter an Wingo heran, denn ich wollte nicht, daß Pleasants durch die alltäglichen Vorgänge in der Gerichtsmedizin noch mehr aus der Fassung gebracht wurde.
»Die Nationalgarde ist schon unterwegs«, sagte ich mit leiser Stimme. »Wenn die die Sachen nicht wollen, dann können Sie sie ans Bestattungsunternehmen schicken.«
Er musterte Pleasants eingehend, als kenne er ihn von irgendwoher.
»Hören Sie«, sagte ich zu Wingo. »Suchen Sie ihm bitte Adresse und Telefonnummer von Jameson und Higgins heraus.«
Das waren zwei sehr gute Anwälte in der Stadt, die ich als meine Freunde betrachtete.
»Und dann begleiten Sie Mr. Pleasants bitte hinaus.«
Wingo starrte ihn immer noch wie hypnotisiert an.
»Wingo?« Ich sah ihn fragend an, denn er schien mich nicht gehört zu haben.
»Ja, Ma'am.« Er schaute zu mir herüber. Ich ging an ihm vorbei und machte mich auf den Weg nach unten. Ich musste mit Wesley reden, aber vorher wollte ich noch versuchen, Marino zu fassen zu bekommen. Im Aufzug nach unten überlegte ich, ob ich die Staatsanwältin in Sussex anrufen sollte, um sie vor Ring zu warnen. Während mir all dies durch den Kopf ging, dachte ich an Pleasants. Er tat mir schrecklich leid. Ich hatte Angst um ihn. So weit hergeholt es auch schien - mir war klar, daß man ihm eine Mordanklage anhängen
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