Der Kelch von Anavrin. Adrian schreibt als Lara Tina St. John - Adrian schreibt als Tina St. John, L: Kelch von Anavrin
eines Gangs, als sie hörte, wie die Klingen aufeinandertrafen. Kenrick stieß eine Verwünschung aus und grollte vor Schmerz. Gütiger Gott, war er getroffen worden? In unbändiger Angst lief Ariana den dunklen Korridor entlang und betete, die Nacht möge ihr nicht einen der zwei Männer nehmen, die sie so sehr liebte.
Er war nicht da.
Braedon hielt eine der Fackeln aus dem Beinhaus in die Höhe, stand in der Schatzkammer des Mont St. Michel und fluchte ungehalten. Wieder durchsuchte er die Nischen des Gewölbes, doch seine Mühen brachten ihm nichts als Verzweiflung und Zorn ein. Verwirrt schaute er sich um. Hatte er sich geirrt? Er konnte es nicht glauben, aber Calasaar war nicht zu finden.
Dafür barg das Gewölbe eine Anzahl anderer Schätze: juwelenbesetzte Kreuze, kunstvoll gearbeitete Skulpturen – sogar ein alter Schädel war darunter, der wie die heiligste aller Reliquien auf einem Sockel ruhte. Auf einem verzierten steinernen Altar unter dem einzigen Fenster der Schatzkammer fiel Braedon ein kleines Holzkästchen ins Auge, das mit Messing geschmückt war. Das Mondlicht brach sich in dem bunten Glasfenster in der äußeren Mauer und tauchte den Raum in vielfarbiges Licht. Die Farben des Regenbogens schillerten auf polierten Kelchschalen und liturgischen Gefäßen von unschätzbarem Wert. Doch nirgendwo war der Kelch, der den Stein des Lichts barg, zu entdecken.
Braedon strich sich durchs Haar und schaute sich wiederholt im Raum um. Hatte er womöglich etwas übersehen? Aber er hatte doch jeden Winkel abgesucht und jedes Kleinod in diesem Gewölbe in die Hand genommen. Alles umsonst. Der Stein war nicht hier.
Und doch …
Mit in Falten gelegter Stirn stand er da und wollte nicht wahrhaben, dass er sich womöglich geirrt hatte. Hatte er etwas Entscheidendes übersehen? Er wirbelte herum und schwenkte die Fackel über seinem Kopf hin und her. Das flackernde Licht fiel auf die glatt behauenen Steine des Mauerwerks und huschte über die hohe, gewölbte Decke. Sollte ihn das sonst so untrügliche Gespür des Jägers – jene verfluchte Gabe, mit der er sich zu guter Letzt doch noch angefreundet hatte – am Ende getäuscht haben? Die Ironie der Erkenntnis entlockte ihm ein bitteres Lachen.
Nach allem, was er seit der Reise von London bis hierher hatte durchmachen müssen, hatte er nun versagt. Die Aussicht, etwas Gutes zu bewirken – sein Weg zur Erlösung –, sollte vergeblich gewesen sein. Gerade in dem Moment, als er begonnen hatte, seine Fähigkeit zu akzeptieren und sich auf sein Gespür zu verlassen, hatte sich die Gabe des Jägers als böser Scherz erwiesen.
Aber wenn sie ihn schon nicht zu Calasaar führen konnte, so verriet ihm sein Gefühl immerhin, dass Ariana in großer Gefahr schwebte. Irgendwo in der Abtei stand sie Todesängste aus. In der kurzen Zeit, die er umsonst die Schatzkammer durchsucht hatte, waren Draecs Männer näher gekommen. Braedon spürte, wie sie durch die Korridore liefen. Er witterte frisches Blut, Kenricks Blut, vergossen durch eine feindliche Klinge. Deutlich fühlte er, dass irgendwo in der Abtei Klingen aufeinandertrafen, konnte beinahe Arianas keuchenden Atem hören, als sie auf der Suche nach einer Fluchtmöglichkeit durch die Gänge eilte.
»Lauf, meine Liebe«, sagte er leise. »Versteck dich und warte auf mich.«
In der dunklen Ecke eines leeren Zimmers am Ende eines Gangs entdeckte sie eine Nische. Mit wild schlagendem Herzen verbarg Ariana sich in dem dürftigen Versteck und versuchte ihren Atem zu kontrollieren, damit ihr Keuchen sie nicht verriet. Sie konnte nicht sagen, wie lange sie dort in der Dunkelheit, flach an die Mauer aus Granitstein gepresst, wartete. Es kam ihr vor wie Stunden, eine Endlosigkeit der Besorgnis und des bangen Hoffens.
Ob es Kenrick gut ging?
Und was war mit Braedon?
Gütiger Himmel, wenn sie einen von beiden verlöre, sie wüsste nicht, wie sie den Verlust ertragen sollte. Die Angst um ihr eigenes Leben verblasste, wenn sie an die beiden Männer dachte, die sie über alles in der Welt liebte und die sich in schrecklicher Gefahr befanden. Sie wünschte, sie könnte bei ihnen sein und ihnen in irgendeiner Weise helfen. Während sie sich bemühte, ihre aufgewühlten Gefühle in den Griff zu bekommen, bemerkte sie, dass das Schwerterklirren am anderen Ende des Gangs verklungen war. Jetzt herrschte eine tödliche Stille. Dunkelheit umgab Ariana in ihrem grabähnlichen Versteck. Angestrengt lauschte sie auf das leiseste Geräusch
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