Der Kelch von Anavrin. Adrian schreibt als Lara Tina St. John - Adrian schreibt als Tina St. John, L: Kelch von Anavrin
eine Schiffsreise über den Ärmelkanal wagen wollt?«
»Nichts, was Euch etwas angehen würde, das versichere ich Euch.«
Rasch griff sie nach dem Lederbeutel, aber Braedon war schneller. Er löste ihn von dem Gehenk und hielt ihn fest in der Hand. »Auch Eure Meinungsverschiedenheit mit Ferrand unten im Hafen ging mich eigentlich nichts an, aber ich nehme an, Ihr hattet nichts dagegen, dass ich mich einmischte und Euren hübschen Hals rettete.« Er hielt ihrem wütenden Blick stand. »Was wollt Ihr in Frankreich?«
Sie betrachtete ihn finster und verzog die Lippen. Zwischen ihren fein geschwungenen Brauen zeichnete sich eine steile Falte ab. »Wenn Ihr es unbedingt wissen wollt«, bekannte sie nach kurzem Schweigen, »mein Bruder ist dort. Ich bin auf dem Weg nach Rouen, um … ihn zu besuchen.«
Braedon vermutete, dass sie log oder zumindest nur die halbe Wahrheit sagte. »Eine dringende Angelegenheit, dieser Besuch, nicht wahr?«
»Ja, ganz recht. Er … braucht mich. Ich muss so schnell wie möglich zu ihm.«
Braedon schnaubte verächtlich angesichts dieses widersinnigen Entschlusses. »Ein Bruder, der seiner Schwester Winterstürme auf rauer See zumutet, nur weil er sie in seiner Nähe haben möchte, ist entweder ein Narr oder ein Irrsinniger. Vielleicht auch beides.«
Ariana kochte sichtbar vor Wut. Braedon machte absichtlich große Schritte, aber sie folgte ihm scheinbar mühelos. Die Absätze ihrer Stiefel klackten auf der Straße. »Mein Bruder ist der ehrenwerteste Mensch, den ich kenne. Er würde nie mein Leben leichtfertig in Gefahr bringen.«
»Ich bin froh, das zu hören, Madame. Dann wird er es mir gewiss hoch anrechnen, dass ich Eure Münzen behalte und Euch auf diese Weise daran hindere, Euch weiteren Gefahren auszusetzen.«
»Eine schöne Ausrede«, erwiderte sie aufgebracht, »noch dazu aus dem Mund eines gewöhnlichen Diebes und Schurken. Ich könnte Euch wegen Diebstahls verhaften lassen, das ist Euch hoffentlich klar? Ein Mann wie Ihr wird bestimmt wegen so manch eines Vergehens gesucht.«
»Ich bin von Eurer Dankbarkeit geradezu überwältigt, Mylady«, spottete Braedon. »Wäre es Euch vielleicht lieber gewesen, ich hätte Euch unten an den Docks zurückgelassen? Dann hättet Ihr Euch mit wahren Dieben und Schurken abgeben können, und ich versichere Euch, Ihr hättet weitaus mehr verloren als nur Euren Geldbeutel.«
Sie verstummte und verlangsamte ihre Schritte, als sie die Bedeutung seiner Worte erfasste. Die kecke Schlagfertigkeit, die sie bis dahin an den Tag gelegt und die ihm so an ihr gefallen hatte, war plötzlich verflogen. Braedon runzelte die Stirn und beschloss, nicht weiter über eine törichte Frau nachzudenken, die sich aus einer Laune heraus in eine Räuberhöhle begeben hatte, nur weil sie ihren Bruder auf dem Kontinent besuchen wollte.
»Liegt Clairmont so weit von London entfernt, dass Euch niemand über die Gefahren dieser Stadt aufgeklärt hat? Das Hafengebiet ist nicht gerade ein Ort für eine Dame von edler Herkunft – schon gar nicht ohne ausreichenden Begleitschutz.«
Er hatte sich schon auf einen Wortwechsel oder zumindest auf eine scharfe Antwort eingestellt, sodass ihn ihr beharrliches Schweigen überraschte.
»James hat mich wiederholt gewarnt«, erwiderte sie schließlich leise und seufzte tief. »Er sagte mir, er habe kein Vertrauen zu Ferrand, aber ich … ich habe nicht auf ihn gehört. Oh, der arme James! Ich kann nicht glauben, dass er … «
Niedergeschlagen biss sie sich auf die Unterlippe. Ihr fehlten die Worte. Sie wandte sich von ihm ab, schritt zu der Brüstung und blickte auf den Fluss hinab. Ihre zierlichen behandschuhten Hände umklammerten die Mauer, während ihre Schultern unter dem Mantel bebten. Trotz ihrer Zähigkeit war sie offenkundig eine zart besaitete junge Frau, die jetzt erst die schrecklichen Ereignisse in ihrer Gänze zu realisieren schien. Sie mied seinen Blick, drehte den Kopf zur Seite und schluchzte leise.
Unschlüssig blieb Braedon stehen. Er hatte keine Ahnung, wie er mit einer weinenden Frau umgehen sollte. Vermutlich hatte er in seinem Leben schon zu viele Tote gesehen, sodass er sich kaum noch daran erinnern konnte, was es hieß, Trauer zu empfinden. Und solange er davon ausgehen musste, dass Ferrand und dessen Männer vermutlich noch immer durch das Hafenviertel schlichen, hatte er auch nicht die Muße, Ariana Trost zuzusprechen.
»Kommt«, sagte er und widerstand dem Verlangen, sie zu berühren. »Wir
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