Der Kelch von Anavrin: Das magische Siegel (German Edition)
schlich sich plötzlich Besorgnis in ihre zuvor so zufriedenen Züge. »Haven? Was ist denn?«
»Nichts«, erwiderte sie und war kaum in der Lage, richtig zu sprechen, da ihre Zunge mit einem Mal schwer und belegt war. Tränen schimmerten in ihren Augen und raubten ihr die klare Sicht.
Ariana nahm sie sogleich in den Arm, aber auch diese liebevolle Geste vermochte Haven nicht aufzumuntern. Ihre Tränen brachen sich Bahn. Rasch wischte sie die feuchten Spuren auf ihren Wangen fort. »Ich weiß nicht … ich weiß einfach nicht, was mit mir geschieht«, flüsterte sie und konnte den Strom der Tränen nicht aufhalten.
»Scht, ganz ruhig«, wisperte Ariana, und auch ihre Stimme klang nun belegt. »Du darfst nicht weinen. Wenn du so weitermachst, fange ich auch noch an!«
Sie gab ein leises, brüchiges Lachen von sich, und dann mussten sich beide Frauen die Tränen wegwischen.
»Genug mit dieser Narretei!«, rief Ariana, obwohl auch sie mit Mühe nach Fassung rang. »Bald versammeln wir uns zum Festmahl, und es steht dir nicht an, wenn du bei deinem bezaubernden Auftritt mit roten, verweinten Augen erscheinst.«
Sie ergriff Havens Hand und führte ihre Freundin zur Kleidertruhe. »Komm und hilf mir zu entscheiden, was ich tragen soll. Ich habe vor, meinen Gemahl heute Abend zu verführen. Dafür muss ich noch etwas möglichst Unwiderstehliches finden.«
Haven erwiderte das durchtriebene Lächeln ihrer Freundin und war mehr als froh, ihre bedrückenden Gedanken für eine Weile beiseiteschieben zu können.
»Verflucht!«
Aufgebracht schalt sich Kenrick für seine Unachtsamkeit und sah, wie sich der schwarze Tintenklecks auf der Seite seines aufgeschlagenen Tagebuchs ausbreitete. Mit dem Ärmel war er gegen das kleine Tintenfässchen gekommen.
Zwar versuchte er noch, die zerlaufende Tinte abzutupfen, aber es war zwecklos. Die Arbeit von zwei Stunden war dahin. Die Berechnungen und Zeichnungen, die er in sein Tagebuch übertragen hatte, waren nun unleserlich geworden, denn die schwarze Flüssigkeit drang tief in das Pergament.
Mit einem Aufschrei packte Kenrick das Tagebuch und warf es an die gegenüberliegende Wand, doch sein Zorn galt nicht allein den von Tinte verschmierten Aufzeichnungen. Das ledergebundene Buch bekam einen Riss, und einzelne Seiten fielen heraus, als das Tagebuch mit dumpfem Laut auf dem Boden aufschlug.
»Wo bist du mit deinen Gedanken!«, schalt er sich laut, sprang auf und fuhr sich in einer Geste großen Unmuts durchs Haar.
Er hatte an sie gedacht.
Bereits vor Stunden hatte Haven seine Gemächer verlassen, fortgetrieben durch seine bewusst kühle und abweisende Art. Die schwere Eichentür hatte ihn vom Rest der Burg abgetrennt, und doch schien Haven immer noch da zu sein.
Nach all den Einzelheiten, die er von Rand erfahren hatte, hatte sich Kenrick vorgenommen, nicht mehr an Haven zu denken. Er wollte sie nicht mehr sehen. Bei Gott, er wollte sie nicht mehr begehren wie zuvor, als er sie hier in seinem Gemach vorgefunden hatte.
Wie ein Tier war er über sie hergefallen, hatte seine Leidenschaft und seinen Zorn an ihr gestillt, und immer noch war er für sie entbrannt.
Die Vernunft riet ihm, eine Feindin in ihr zu sehen. Sie war eine Gestaltwandlerin und eine Spionin, eine kühl berechnende Lügnerin. Wenn all das, was Rand ihm gesagt hatte, wirklich der Wahrheit entsprach, dann musste Havens Herz so schwarz und böse wie der Tod sein.
Dennoch konnte er kaum glauben, dass sie gemeinsame Sache mit einem Schurken wie Silas de Mortaine machte. Da er sie zu kennen glaubte, erschien es ihm unmöglich, sich mit einer so grässlichen Wahrheit abfinden zu müssen.
Haven hatte so ehrlich und freundlich gewirkt. In der kurzen Zeit, in der sie sich von ihrer Verletzung und dem Verlust ihres Gedächtnisses erholt hatte, war sie zu einem Teil von Clairmont Castle geworden. Und Kenrick konnte nicht leugnen, dass sie auch zu einem Teil seines Lebens geworden war.
War all dies eine grausame Wendung des Schicksals, oder war hier eine gerissene Gestaltwandlerin am Werk, die rücksichtslos ihr Ziel verfolgte?
Kenrick hatte sich das Hirn zermartert und diese Vorstellung immer wieder verworfen … Oder vielleicht war es auch nur sein Herz, das sich weigerte, sich einzugestehen, dass er so blind gewesen war.
Wenn sich all das, was er gehört hatte, als wahr erweisen sollte, dann war Haven eine gefährliche Verräterin … und genau das galt es während des Festmahls herauszufinden.
Kenrick hatte
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