Der Kelch von Anavrin: Das magische Siegel (German Edition)
ich mache mir Sorgen um Haven. Irgendetwas stimmt nicht mit ihr.«
»So ist es«, stieß er zwischen zusammengebissenen Zähnen grollend aus.
»Noch nie habe ich sie so aufgelöst gesehen. Jemand sollte sich um sie kümmern.«
»Wo wollte sie hin?«, fragte er, doch er wartete die Antwort gar nicht erst ab.
»In ihr Gemach.« Als er seine Schritte beschleunigte, eilte Ariana ihm nach. »Warte, Kenrick. Ich möchte mitkommen.«
Der harte, gebieterische Blick, den er ihr über die Schulter zuwarf, ließ sie jedoch innehalten. »Du bleibst hier, Ariana.« Er wandte sich ihr zu und versperrte ihr den Weg. »Geh zu deinem Gemahl. Und sag ihm, niemand dürfe nach oben gehen, bis ich zurückkehre. Hast du mich verstanden?«
Besorgnis lag in den blauen Augen seiner Schwester, doch sie schien zu ahnen, dass etwas nicht stimmte. »Du zürnst ihr. Aber warum? Was ist denn geschehen?« Sie blickte zur Empore hinüber und sog geräuschvoll den Atem ein. »Kenrick, ist das nicht … Rand? Er lebt ja!«
»Tu, was ich sage, Ariana. Sag Braedon, er soll Randwulf nicht sagen, was hier vor sich geht, verstehst du? Diese Angelegenheit muss ich allein bestreiten.«
»Kenrick, ich verstehe das alles nicht. Wie kann es denn sein, dass Rand dort hinten steht, obwohl Haven uns sagte … «
»Auf ihre Worte ist kein Verlass.«
Ariana sah ihn ungläubig an und zog die Stirn in Falten. »Was willst du jetzt mit ihr machen?«
»Was ich sofort schon hätte tun müssen, als ich ihre Lügen ahnte.«
Haven mühte sich mit den Bändern ihres Gewandes ab. Ihre Finger zitterten und wollten ihr in der Aufregung nicht gehorchen. Schwer atmend löste sie das letzte Band und warf die wundervolle Kleidung ab wie eine Schlange, die sich häutet. Selbst das leichte Gewebe aus Seide und Samt war ihr nun zu schwer, da Schmerz und Furcht auf ihr Herz drückten und sich das Gefühl von Schuld einer großen Last gleich auf ihre Seele legte.
Barfuß und lediglich mit dem weißen Untergewand bekleidet, eilte Haven zu der Truhe am Bettende und riss den Deckel auf. Ihr Blick fiel auf ihren alten erdfarbenen Rock und den wollenen Umhang, den die Mägde von Clairmont inzwischen gewaschen und geflickt hatten. Sie nahm ihre Kleidung heraus und legte die Lavendelzweige sorgsam beiseite, die sie während eines Spaziergangs mit Ariana unten im Garten abgeschnitten hatte. Von der Staude getrennt, erschienen die zarten, blassen Zweige inzwischen ihres Lebenssafts beraubt.
Wie zerbrechlich die Welt der Sterblichen war.
Wie leicht vergingen die kostbaren Gaben.
Tränen brannten ihr bei diesen Gedanken in den Augen, aber Haven hielt sie zurück. Für das, was geschehen war, konnte sie sich nur selbst die Schuld geben, niemandem sonst. Und das, was sie an diesem Abend verloren hatte, ließ sich kaum ermessen, geschweige denn zurückgewinnen.
Mochte sie ihr eigenes trauriges Missgeschick beklagen, der Kummer, den sie Randwulf of Greycliff durch ihr Handeln bereitet hatte, lastete schwer auf ihrem Gewissen. Er hatte Frau und Kind verloren – seine geliebte Familie. Die Stimme ihrer anavrinischen Vergangenheit, die innere Stimme der Kriegerin, die lange durch den Gedächtnisverlust zum Schweigen verdammt gewesen war, wisperte indes gehässig, dass die Menschen, die Rand verloren hatte, bloß die Opfer in jenem Kampf waren, der um den Drachenkelch geführt wurde.
Was für eine schwache Rechtfertigung!
Ein solches Denken war widernatürlich und gefühllos. Eines aber schien gewiss: Die Frau, die sie einst gewesen war, kannte sie nicht mehr. Niemals würde sie wieder so sein können wie früher, jetzt, da Kenrick und seine Familie ihr gezeigt hatten, was es bedeutete, zu leben.
Liebe zu empfinden, von ganzem Herzen.
Sie schloss den Deckel der Truhe und erhob sich. Rasch zog sie sich an, streifte sich das alte Kleid über den Kopf und strich die grob gesponnenen Röcke glatt, als sie draußen auf dem Gang schwere Schritte vernahm. Sie hatte die Tür nicht verriegelt. Wie viel Zorn sie auch immer zu spüren bekäme, sie wollte sich ihrem Schicksal mutig stellen … und aufrichtig sein! Koste es, was es wolle.
Der eiserne Schnappriegel bewegte sich, die schwere Tür schwang auf.
Ohne ein Wort trat Kenrick über die Schwelle. Haven hörte, wie seine entschlossenen Schritte hinter ihr innehielten.
Sie, die nicht viel in ihrem Leben gefürchtet hatte, zitterte jetzt vor Angst. Es war nicht sein Zorn, vor dem ihr grauste – ein Zorn, der zweifellos heftig sein würde
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