Der Kelch von Anavrin: Das magische Siegel (German Edition)
begab. Es dauerte nicht lange, da hallte ein aufgeregter Ruf von den Kapellenwänden wider.
»Heiliger! Das musst du dir ansehen.«
Kenrick erhob sich rasch und eilte zu seinem Gefährten.
Rand stand in der Mitte der Kirche und hielt seine Pechfackel hoch. Er schaute nicht auf den Boden, sondern auf das Mauerwerk, das nun im flackernden Schein der Fackeln reliefartig erschien. Kenrick stellte sich neben seinen Freund und blickte ebenfalls auf die Mauer, in die der Durchgang zur Sakristei eingelassen war. Das, was er dort sah, entlockte ihm einen Laut des Erstaunens.
»Heilige Muttergottes.«
Rand hielt eines von Kenricks Diagrammen hoch und verglich die Zeichen mit denen an der Mauer. Sie stimmten nahezu überein. »Ich würde sagen, wir haben etwas gefunden, mein Freund«, verkündete er mit einem siegessicheren Lächeln.
»Es ist wahr, das haben wir«, pflichtete ihm Kenrick bei und war sich nicht sicher, ob er in seiner Aufregung überhaupt noch atmete, stand er doch unmittelbar vor der Lösung eines alten Rätsels.
Was aber war, wenn er sich doch geirrt hatte?
Er wusste, dass die Zeichen des Kreuzes und der Himmelssphären der Schlüssel zu einem Teilstück des Drachenkelchs waren, und jetzt stand er kaum eine Armeslänge von den Symbolen auf dem dicken Mauerwerk entfernt.
Er hatte erwartet, dass sie den Aufbewahrungsort des Schatzes anzeigten, und genau da lag nun die Schwierigkeit. Alles, was er hier sehen konnte, war das leere Kirchenschiff und die im Dunkel liegende Sakristei auf der anderen Seite des Durchgangs.
Sie waren in eine Sackgasse gelaufen.
Haven saß auf der Bettkante, das volle Glas Wein in der Hand, und sah zu, wie sich Draec le Nantres die Speisen munden ließ, die sie auf einem Tablett hatte anrichten lassen. In Ermangelung eines Stuhls saß er lässig mit dem Rücken an die Wand gelehnt neben dem Kaminfeuer, das eine Bein angewinkelt, und wirkte wie ein herablassender Prinz. Er trank bereits sein zweites Glas Wein und ließ seinen sinnlichen Blick ganz unverfroren über Havens Rundungen gleiten, während er dem zuhörte, was sie über ihre Zusammenarbeit zu sagen hatte.
Was natürlich nicht der Wahrheit entsprach.
Ihre Kühnheit war nur vorgetäuscht. Wie auch das durchscheinende Gewand und der samtene Umhang, die anavrinischer Zauberkunst entsprangen, um die schlichte Kleidung zu verbergen, die sie seit ihrer Flucht von Clairmont Castle trug. Sie hatte sich Draec le Nantres von ihrer einladenden und verführerischen Seite gezeigt, als willige Verbündete. Und bislang hatte er den Köder geschluckt. Dennoch, ihr Vorhaben konnte jeden Augenblick fehlschlagen.
Sie musste ihn jetzt eine Zeit lang hinhalten, damit die Kräuter ihre volle Wirkung entfalten konnten und den kraftvollen Leib und den gefährlichen Geist dieses Mannes lähmten.
Und sie hatte Glück, denn le Nantres war ein Mann mit einem ausgeprägten Appetit. Zu ihrem Ärger beschränkte sich dieser Appetit allerdings nicht auf die Speisen und den Wein. Er begehrte auch sie – und machte, während die Stunden in der kleinen Kammer verstrichen, aus seinen Absichten keinen Hehl.
»Ihr gebt mir das Gefühl, dass ich ein unersättlicher Vielfraß bin, meine Dame. Kommt doch zu mir ans Feuer und kostet selbst von diesen Speisen. Sie schmecken herrlich.«
Haven schenkte ihm ein scheues Lächeln, in dem Berechnung lag. »Ich begnüge mich damit, Euch beim Mahl zuzuschauen. Außerdem sagte ich Euch doch bereits, dass ich gerade erst vor Eurer Ankunft gespeist habe.«
Ein grollender Laut entrang sich seiner Kehle. Le Nantres wirkte verstimmt, doch sein männliches Selbstbewusstsein war ungebrochen, und Haven fragte sich, ob sich wohl jemals eine Frau den Forderungen dieses Schurken widersetzt hatte. »Kosten müsst Ihr zumindest. Dann können wir die angenehmeren Dinge unseres Bündnisses besprechen.«
Sie zog eine Braue hoch, machte allerdings keine Anstalten, sich von der Bettkante zu erheben.
»Nein?«, fragte er, sichtlich belustigt. »Ganz wie Ihr wollt, meine widerspenstige Schöne. Dann bringe ich die sündhaften Speisen eben zu Euch.«
Mit kräftigen, eleganten Fingern nahm er eine Beere aus der mit Honig angerichteten Soße, erhob sich gemächlich vom Boden und trat zum Bett hinüber. Dunkel und mit unverhohlenem Verlangen ruhte sein sinnlicher Blick auf Haven und verriet, dass er sowohl in der Jagd als auch in der Eroberung geübt war. Dennoch fiel ihr sofort auf, dass Draecs Gang von einem kaum merklichen
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