Der Kelch von Anavrin: Das magische Siegel (German Edition)
Anhöhe breitete sich eine große Wiese mit hellgelben und violetten Blumen aus, die bis zu einem kleinen Obstgarten reichte, in dem die Apfelbäume in voller Blüte standen. Weiter hinten ragte dichter Wald auf, dessen Baumkronen in jungem Frühlingsgrün erstrahlten. Haven erspähte ein Reh, das auf der tauglitzernden Wiese äste.
Sie lehnte sich in der Nische zurück und beobachtete das Tier eine ganze Weile, bis das Reh ruckartig den Kopf hob, da es offenbar irgendein Geräusch gehört oder eine Bewegung wahrgenommen hatte. Das Reh spürte die Gefahr und sprang in den Schutz des Waldes.
Wenn ich das doch auch könnte, dachte Haven voller Wehmut.
Bald würde sie es können. Sobald ihre Kräfte es zuließen, würde sie ihre Flucht vorbereiten. Fürwahr, sie würde über diese blühende Wiese fliehen und wie das Reh Schutz im Schatten des Waldes suchen. Als sie die frische Morgenluft einatmete, glaubte sie, den Geschmack der Freiheit zu spüren.
Das Klopfen an der Tür holte sie wieder in das behagliche Gefängnis zurück. »Herein«, sagte sie und hörte auch gleich das inzwischen vertraute Geräusch eines Schlüssels, der in dem eisernen Schloss gedreht wurde. Sie schaute sich nicht einmal um, als die Tür aufschwang, denn sie wollte den Blick nicht von der schönen Landschaft wenden, die zwar Freiheit verhieß und doch unerreichbar schien. »Wie weit erstrecken sich die Grenzen von Clairmont?«
Sie hatte mit einer weichen Stimme gerechnet, glaubte, nur Ariana könne auf der Schwelle stehen, vermutlich die Beinkleider und Schuhe in Händen haltend. Stattdessen beantwortete ihre Frage ein Mann, und der dunkle Klang seiner Stimme rief erneut diese Unruhe in ihr hervor. »Weiter, als man von hier oben aus schauen kann.«
Er war es – Kenrick, der Burgherr mit dem golden schimmernden Haar.
Ihr Retter, der nunmehr ihr Gefängniswärter war.
Haven verspannte sich sogleich, und beinahe wäre ihr der Kamm aus der Hand geglitten, als sie zu hastig aus der Fensternische herauswollte. Rasch drehte sie sich, berührte mit den bloßen Füßen den Boden, erhob sich von der Sitzfläche und stand nun mit dem Rücken an der Wand.
»Es war nicht meine Absicht, Euch zu erschrecken.«
»Ihr habt mich auch nicht erschreckt«, erwiderte sie und richtete sich zu voller Größe auf, wobei sie sich einredete, es sei eher Überraschung und nicht Furcht, die ihr Herz beim Anblick dieses Mannes schneller schlagen ließ. Er hatte sich vor der Tür nicht zu erkennen gegeben und trat nun an die Fensternische, neben der sie stand. Einen kurzen Moment lang sah er aus dem Fenster, heftete den Blick dann jedoch auf sie.
»Ihr zittert ja, Haven.«
War dem so? Tatsächlich erschrak sie zutiefst, als sie auf ihre zittrigen Hände schaute.
»Es ist ein kühler Morgen«, sagte sie entschuldigend und rückte ein wenig von ihm ab.
Tatsächlich war die Luft mild und angenehm. Wenn sie in Gegenwart von Kenrick of Clairmont zu zittern begann, dann konnte sie wohl kaum das Wetter dafür verantwortlich machen. Sie glaubte allerdings auch nicht, dass sie sich in irgendeiner Weise von diesem Mann angezogen fühlte, obwohl sie den Blick nicht von seinen breiten Schultern und den beherrschten Zügen seines ansprechenden Gesichts zu wenden vermochte. Aus jeder seiner Bewegungen sprach eine zurückgehaltene Kraft, seine kultivierte Sprechweise verriet einen klugen Kopf und einen wachen Geist.
»Ihr müsst wissen, dass ich mich in dem Dorf in Cornwall nach Euch erkundigt habe, ehe ich Euch hierherbrachte.«
»Das sagtet Ihr bereits, als ich erwachte und mich in diesem Gemach wiederfand, Mylord.«
»Die Leute erzählten mir, dass Ihr allein lebt. Dass Ihr weder einen Gemahl noch Familie habt. Ich erfuhr, dass Ihr vor etwas über einem Jahr nach Cornwall kamt und Euren Lebensunterhalt mit Heilkräutern verdient habt.« Er hielt inne, als erwarte er eine Erklärung. Schließlich sprach er in die Stille hinein: »Einige nannten Euch eine Hexe.«
»Eine Hexe, ich?«, wiederholte sie ungläubig, doch sie empfand die Bemerkung eher lustig als beleidigend. »Die Menschen in dem Dorf sind einfache Leute mit beschränktem Geist. Gehört auch Ihr dazu, Mylord?«
Nein, gewiss nicht. Im selben Augenblick, als ihr die Worte über die Lippen gekommen waren, wusste sie, dass dieser Ritter mit der ruhigen, kultivierten Stimme kein leichtgläubiger Mensch war. Scharfsinn und Klugheit lagen in seinen blauen Augen, auch jetzt, da er den Blick über ihren Leib gleiten
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