Der Kelch von Anavrin: Das magische Siegel (German Edition)
Vorgehensweise von den Methoden eines Silas de Mortaine unterscheidet, mein lieber Bruder. Ist ein Gefängnis leichter zu rechtfertigen als ein anderes?«
Die Frage hing in der Luft des Gemachs, unbeantwortet, denn die Angelegenheit war nicht so einfach in Schwarz und Weiß aufzuteilen. Oder etwa doch?
Ein Muskel zuckte in Kenricks Wange. Er brauchte sich in seiner eigenen Burg nicht zu rechtfertigen. Ariana hatte ein zu weiches Herz, ihr Mitgefühl drängte sich zu oft in ihren scharfen Verstand. Doch hier ging es um Krieg. Er war zwar nicht offen erklärt worden, aber nichtsdestoweniger blutig und schwerwiegend. Und jetzt verglich seine Schwester ihn auch noch indirekt mit dem übelsten Schurken auf Erden, Silas de Mortaine.
Als sich das quälende Schweigen in die Länge zog, räusperte sich Braedon. »Komm, Ariana«, sprach er, »gehen wir in unser Gemach, wenn du magst. Ich habe die Schwertübungen mit den Männern vernachlässigt, und ich möchte dich um mich haben, während ich mein Kettenhemd anlege.«
»Aye«, erwiderte sie leise. »Gewiss.«
Sie warf noch einen letzten bedeutungsvollen Blick in Kenricks Richtung – einen Blick, den ihr düster dreinschauender Bruder nicht erwiderte. Dann hakte sich Ariana bei ihrem Gemahl unter und ließ sich von ihm auf den Korridor geleiten. Erst als die Tür schwer ins Schloss gefallen war, stieß Kenrick den üblen Fluch aus, der ihm die ganze Zeit schon auf der Zunge gebrannt hatte.
6
Ein Zuber mit lauwarmem Wasser stand neben dem Kamin in Havens Kammer. Eben war sie aus dem Badewasser gestiegen, das nach Lavendel duftete, hatte sich angekleidet und saß nun auf einem Kissen in der Nische vor dem Fenster. Seufzend zog sie sich einen Kamm durch ihr feuchtes Haar. Sie genoss es, wieder sauber und frisch zu sein, und kostete die fein gearbeiteten Zinken aus Walfischbein aus, während sie sich die langen Locken auskämmte. Vorsichtig raffte sie ihr Haar im Nacken zusammen und legte es sich dann über die unversehrte Schulter, um es an der frischen Luft, die durch das offene Fenster hereinströmte, trocknen zu lassen. Der Kamm war ein Geschenk von Lady Ariana, ebenso das schlichte beerenfarbene Gewand, das ihre Haut mit teurer Seide verwöhnte.
Zwei Tage war es nun her, dass sie in dieser Kammer aufgewacht war, verwirrt und geschwächt. Doch allmählich kam sie wieder zu Kräften. Ihr Geist war wach, die Schmerzen hatten nachgelassen. Auch ihr Appetit war zurückgekehrt, und mittlerweile konnte Haven wieder allein stehen. Gleichwohl passte sie gut auf, denn sie war noch ein wenig wackelig auf den Beinen. Den linken Arm musste sie noch schonen, doch die Wunde an der Schulter verheilte zusehends, und jeden Tag, jede Stunde sogar, ging es ihr besser; ihre alte Kraft kehrte zurück, ihre Aufnahmefähigkeit nahm zu.
Leider konnte sie dasselbe nicht von ihrem Erinnerungsvermögen sagen, denn nach wie vor war die Nacht, in der sie angegriffen worden war, unscharf und in weiter Ferne. Das machte ihr Sorgen. Denn solange sich die Erinnerung nicht einstellte, musste Haven auf ihre Freiheit warten, so viel stand fest.
Dieses Gemach mit den farbenprächtigen Wandbehängen war ihr goldener Käfig, die freundliche Dame der Burg ihr wohlwollender Wärter. Im Augenblick suchte Lady Ariana passende Beinkleider und Schuhe für sie, denn sie befürchtete, dass sich Haven auf dem kalten Fußboden rasch verkühlen könnte, wenn sie weiterhin barfuß lief. Die Art und Weise, wie sich Lady Ariana um sie kümmerte, rührte Haven. Anfangs hatte sie sich vorgenommen, keinem auf der Burg zu trauen, und sie war auch jetzt noch wachsam und argwöhnisch. Eine innere Stimme mahnte sie, Abstand zu den Leuten zu wahren, mochte man ihr auch freundlich begegnen. Aber war es darum auch falsch, Vertrauen zu Lady Ariana zu fassen?
Glücklicherweise hatte Haven den unliebsamen Bruder der Dame nur am ersten Tag ertragen müssen. Bislang hatte er das Gemach nicht mehr betreten. Selbst jetzt verspürte sie Wut in sich hochsteigen, wenn sie nur an sein anmaßendes Gebaren dachte. Vielleicht war es sogar ihr schwelender Zorn, der ihren Genesungsprozess beschleunigte. Kein Mann, was auch immer seine Beweggründe sein mochten, sollte sie gegen ihren Willen festhalten. Sobald sie wieder bei Kräften wäre, würde sie Clairmont Castle weit hinter sich lassen.
Sehnsuchtsvoll ließ sie den Blick über die Landschaft schweifen, die sich jenseits des alten Burggrabens von Clairmont Castle erstreckte. Am Fuße der
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