Der Kelch von Anavrin: Das magische Siegel (German Edition)
nicht für ratsam, dem Ritter gegenüber zu erwähnen, dass die zerbrechliche Dame nicht in erster Linie an Kopfschmerzen, sondern an einer drückenden Schwermut gelitten hatte. »Ich brachte ihr, was sie verlangte, aber es war trostlos um sie bestellt. Ihr Gemahl war einige Tage nicht zu Hause, da er sich um die Besitztümer in der Nähe von Penzance kümmern musste. Die Dame hätte ihn gewiss begleitet, aber sie fühlte sich zu krank für den langen Ritt. Ich begab mich also zur Burg und blieb eine Weile bei Elspeth, bis ich sah, dass es ihr ein wenig besser ging.«
»Der Überfall ereignete sich demnach, als Ihr bei Elspeth wart?«
Sie zuckte die Schultern, denn die genauen Abläufe entzogen sich ihr nach wie vor. »Nein. Das heißt, ich bin mir nicht sicher. Ich weiß noch, dass es dunkel war. Vielleicht bin ich noch einmal zurückgekommen, um nach ihr zu sehen? Ich kann mich nicht mehr an den Ablauf erinnern. Die Dinge sind alle so … verschwommen, wie in Nebel getaucht.«
»Was war mit Randwulf of Greycliff? Er muss doch auch in der Burg gewesen sein. War er schon von seiner Reise zurückgekehrt, als Ihr Euch um seine Gemahlin gekümmert habt?«
»Ich weiß es nicht.«
Es war die Wahrheit; Haven konnte sich nicht an die Einzelheiten jener Schreckensnacht erinnern. Sowie sich die Schatten herabgesenkt und die Flammen sich um sie geschlossen hatten, verschwammen die Bilder vor ihren Augen. Sie konnte sich lediglich an den gewaltsamen Übergriff erinnern, an die schreckliche Gewissheit, dass eine ganze Familie einem Blutbad zum Opfer gefallen war.
Und während sie sich in jene Nacht zurückzuversetzen versuchte, konnte sie die klauenartigen Finger an ihrem Hals beinahe spüren, wie sie sie würgten, als der beißende Qualm ihr bereits in den Augen brannte und ein Stechen in ihren Lungen hervorrief.
Vor ihrem geistigen Auge glaubte sie eine Grimasse zu sehen – hässlich gebleckte Zähne und ein böses Zischen, als ihr der Angreifer die Luft aus dem Leib presste.
»Ich brauche Eure Hilfe, Haven. Ihr müsst versuchen, mir möglichst alles zu erzählen, was Ihr über die Männer wisst, die Greycliff Castle überfielen – falls es nur Männer waren und keine Bestien. Alles, woran Ihr Euch erinnern könnt: wie die Männer aussahen, was sie womöglich sagten, ob jemand etwas mitgenommen hat … Es ist wichtig, dass ich diese Antworten erhalte.«
»Es tut mir leid«, wisperte sie und zwang sich, in Kenricks blaue Augen zu schauen. »Ich kann Euch nicht mehr berichten. Ich habe Euch alles erzählt, was mir im Augenblick einfällt.«
Eine Weile sagte er nichts. Er betrachtete sie nur, und sein prüfender Blick schien sie zu versengen. Schließlich zog er eine Braue hoch. »Nun gut.«
Vorerst würde er nicht weiter mit Fragen in sie dringen, aber in seinen Augen blieb ein argwöhnisches Funkeln. Er glaubte ihr nicht, blieb seinem Vorsatz jedoch treu, sie nicht in die Knie zu zwingen. Sie ahnte, dass er ihr keine längere Atempause gewähren und sie bald mit weiteren Fragen bestürmen würde. Doch im Augenblick gab er sich mit dem zufrieden, was sie gesagt hatte.
»Gebt mir Eure Hand, Haven.«
Stirnrunzelnd schaute sie zu ihm auf. »Warum?«
»Eure Hand«, wiederholte er, und Ungeduld schlich sich in seine sonst ruhige Stimme.
Als sie keine Anstalten machte, der Aufforderung nachzukommen, ergriff er ihre Hand. Warm und fest ruhten seine Finger auf ihrer Haut, die Berührung war zurückhaltend und gebieterisch zugleich. Sacht drehte er ihre Hand, legte etwas hinein und schloss ihre Finger um ein dünnes, langes Stück Metall.
Es war ein Schlüssel.
Der Schlüssel zu ihrem Gefängnis, wie sie erkannte.
»Was hat das zu bedeuten?«
»Ich lasse Euch die Wahl«, sprach er, und seine Hand umschloss noch immer die ihre. Er schien dies im selben Augenblick zu merken wie sie, denn nun zog er seine Hand rasch fort und trat einen Schritt zurück. »Ich überlasse die Entscheidung Euch, wohin Ihr von nun an zu gehen gedenkt, Haven. Ihr habt weder von mir noch von meiner Familie etwas zu befürchten. Ich halte Euch nicht wie eine Gefangene; fühlt Euch auf Clairmont Castle wie zu Hause, während Ihr Euch weiter erholt.«
»Aber dies ist nicht mein Zuhause«, hob sie hervor, fest entschlossen, sich nicht von diesem Mann und der verständnisvollen Geste blenden zu lassen.
»Ihr seid hier willkommen. Ihr werdet mit allem Nötigen versorgt und sollt meiner Schwester helfen, wenn Sie Euch in der Burg braucht. Wenn Ihr
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