Der Kelch von Anavrin: Das magische Siegel (German Edition)
Verzeihung, Haven. Ich hatte nicht das Recht … es war auch nicht meine Absicht, mich so forsch vorzuwagen.«
Scheinbar unbeeindruckt von der heftigen Röte, die ihre Wangen überzog, tat sie seine Bedenken mit einer wohlwollenden Handbewegung ab.
»Schon in Ordnung«, murmelte sie. Doch Kenrick sah, dass sie ein wenig weiter von ihm abrückte, bis sie sich aus der Reichweite seines Arms entfernt hatte. »Ich denke, ich hätte … ich würde jetzt gern zum Burgfried zurückkehren.«
»Gewiss, ich werde Euch … «
»Nein«, unterbrach sie ihn bestimmt. »Bitte, ich möchte … Ihr entschuldigt mich.«
Er konnte nachvollziehen, dass sie sein Angebot, sie zurückzugeleiten, entschieden ablehnte. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, raffte sie die Röcke und rauschte an ihm vorbei.
9
Am folgenden Tag stand Haven noch immer unter dem Eindruck der Begegnung im Burggarten. Sie konnte nicht glauben, dass Kenrick sich solche Freiheiten herausnahm. Noch schlimmer war allerdings, dass sie nicht wahrhaben wollte, wie ihr Körper auf den stattlichen Burgherrn ansprach.
Seine Berührung hatte sie erschüttert, aber das lag nicht an einem Gefühl der Empörung, die ihr in diesem Augenblick durchaus zugestanden hätte. Kenricks unerwartete Liebkosung hatte sie dagegen in einer Weise beunruhigt, über die sie lieber nicht näher nachdenken mochte. Nicht, wenn ihre Haut noch in Flammen zu stehen schien und ihre Gedanken sich einzig und allein um die Zärtlichkeit drehten, die er ihr entgegengebracht hatte. Aber diese seidige Berührung barg eine Gefahr, wie auch der Mann selbst eine unbestimmbare Bedrohung darstellte.
Eigentlich wollte sie überhaupt nicht an ihn denken und war heilfroh, dass sie ihn seit dem Spaziergang zum Garten nicht mehr zu Gesicht bekommen hatte. Nun hoffte sie, er möge sich auch an diesem Vormittag von ihr fernhalten, denn sie verspürte keineswegs den Wunsch, an seine Unverfrorenheit erinnert zu werden – weder in der Großen Halle noch vor dem Burgfried, wo sie die frische Luft zu genießen gedachte.
Wie es aussah, würde sie den Spaziergang allein machen. Wenn zutraf, was die Zofe sagte, die Havens Schulter versorgte, war Lady Ariana unpässlich und konnte daher den Gast nicht begleiten. Haven nahm die Nachricht ein wenig enttäuscht auf und machte sich um ihre neue Freundin Sorgen.
»Stimmt irgendetwas nicht, Mary? Hat sie gesagt, was ihr fehlt?«
Die Zofe, eine junge Frau mit einem sommersprossigen Gesicht und scheuem Wesen, schüttelte den Kopf. »Nein, Miss Haven. Heute früh hat sie ihre Mahlzeit gar nicht angerührt und uns lediglich gesagt, sie wolle sich noch eine Weile ausruhen.«
»Nun ist es beinahe Mittag«, stellte Haven fest. »Ich hoffe, sie fühlt sich nicht allzu unwohl. Vielleicht schaue ich später einmal nach ihr.«
Die junge Zofe nickte zustimmend, während sie den alten Verband von Havens Wunde löste und zur Seite legte. Mit einem warmen, feuchten Tuch säuberte sie die Stelle und wartete dann, dass die Haut wieder trocknete. »Die Wunde verheilt sehr gut«, merkte sie an. »Noch eine Woche, und Ihr dürftet ganz beschwerdefrei sein.«
Haven schaute auf ihre Schulter und sah, dass der hässliche Schnitt tatsächlich heilte und die roten Verfärbungen der Entzündung abgeklungen waren. Sie vermochte gar nicht auf die tiefe Wunde zu schauen, ohne sich gleich zu vergegenwärtigen, wie knapp sie mit dem Leben davongekommen war. Vielleicht hätte sie nur noch ein oder zwei Tage – vielleicht sogar nur wenige Stunden – gelebt, wenn Kenrick of Clairmont sie in jener Nacht in Cornwall nicht zufällig entdeckt hätte.
Er hatte ihr das Leben gerettet, und dafür sollte sie ihm zumindest dankbar sein.
Und das war sie auch. Aber sie fragte sich trotzdem immerzu, ob ihr blonder Retter nicht eine zwar anders geartete, aber nicht minder gefährliche Bedrohung darstellte. Dass er in eine verdächtige Angelegenheit verwickelt war, musste jedem klar sein, der Augen und Ohren hatte.
Selbst die Bediensteten und die Burgbewohner sprachen hinter vorgehaltener Hand über die Eigentümlichkeiten und die Heimlichtuerei ihres Herrn. Er schlich wie ein Geist durch die Burg, stets in Gedanken versunken und doch wachsam. Haven war schnell das Gerücht zu Ohren gekommen, der Burgherr esse und schlafe nie und gebe sich der schwarzen Kunst hin. Jeden, so hieß es, der es wagte, seine Gemächer zu betreten, erwarte die ewige Verdammnis.
Haven konnte zwar nicht glauben, dass ein Mann wie
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