Der Kelch von Anavrin: Das magische Siegel (German Edition)
Schreckensnacht zu erinnern, glaubte sie doch, dass der Schlüssel für ihr eigenes Wohlergehen irgendwo dort in den düsteren Abgründen ihres unzuverlässigen Erinnerungsvermögens lag.
Der Gedanke, dass sich bestimmte Begebenheiten nicht in ihrem Gedächtnis festgesetzt hatten, belastete sie und lähmte ihre Schritte. Sie sehnte sich nach einer Ungebundenheit außerhalb dieser Mauern, wusste aber zugleich, dass man ihr nicht gestatten würde, die Burg allein zu verlassen. Somit hatte die Freiheit, die Kenrick ihr in Aussicht gestellt hatte, ihre Grenzen.
Vielleicht ließe sich noch eine andere Möglichkeit finden.
Während sich die meisten Burgbewohner allmählich in der Großen Halle zur Mahlzeit einfanden, hielt Haven auf die gewundene Treppe zu, die weiter hinauf in den Burgfried führte. Sie fragte sich, ob sie über diese Stufen sogar auf das Dach des hohen Gebäudes gelangen könnte, und erklomm die steile und schmale Wendeltreppe.
Doch als sie immer höher hinaufstieg und noch ein weiteres bewohntes Stockwerk hinter sich ließ, wurden ihre Beine allmählich müde. Daher gönnte sie sich eine kurze Verschnaufpause, ehe sie die restlichen Stufen in Angriff nehmen wollte.
Und während sie sich an die runde Mauer lehnte, um wieder zu Atem zu kommen, spürte sie eine eigenartige Schwere in der Luft. Es lag nicht an dem feuchten Mauerwerk oder der Enge des Treppenaufgangs, denn unmittelbar neben Haven befand sich eine schmale Schießscharte in der Wand, durch die frische Luft hereinströmte.
Doch das unbestimmte Gefühl blieb. Es fühlte sich wie die Stille vor einem Sturm an.
Etwas schien sich ihrer zu bemächtigen, ein Prickeln lief ihr über die Arme bis zu ihrer Kopfhaut. Unweigerlich schaute sie zu den verbleibenden Stufen hinauf, die in Schatten gehüllt waren.
Von plötzlicher Neugierde erfasst, nahm sie ihre Kraft zusammen und stieg weiter hinauf.
Bald hatte sie das oberste Stockwerk erreicht. Während die Treppe noch ein Stück höher führte, wo offenbar der Ausgang zu einer mit Zinnen bewehrten Plattform lag, sah sie links von sich einen Gang, der vor einer dunklen, mit Eisenbeschlägen verstärkten Tür abrupt endete, die mit zwei schweren Vorhängeschlössern versehen war. Haven sah sich einmal mehr von düsteren Schatten umgeben, in die nur ein dünner Lichtstrahl drang, der durch eine weitere Schießscharte fiel.
Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass das seltsame Gefühl, das sie zuvor beschlichen hatte, noch immer da war. Es schien sogar stärker zu werden, je länger sie so dastand und auf die verbotene Tür am Ende des Korridors starrte.
Dies hier war sein Reich.
Das war Haven sofort klar, und erneut fiel ihr Blick auf die eisernen Sicherheitsvorkehrungen, die nur einen Schluss zuließen: Hier oben befanden sich in der Abgeschiedenheit des hohen Burgfrieds die privaten Gemächer eines undurchsichtigen, zurückgezogen lebenden Mannes, der mehr als nur ein Geheimnis hütete. Es waren Geheimnisse, die er offenbar als so bedeutend erachtete, dass er sie hinter dickem Mauerwerk und verschlossenen Türen gut neunzig Fuß über dem Erdboden verwahrte.
Das Verbotene, das diese Tür symbolisierte, übte eine eigenartige Anziehung auf Haven aus, obwohl deutlich zu sehen war, dass der Zutritt zu dem Gemach jedem Eindringling verwehrt war. Dennoch erlag sie ihrer Neugierde. Ein Kribbeln durchrieselte ihren Körper und verstärkte das eigenartige Gefühl, während sie die Hand nach der Tür ausstreckte.
Ihre zittrigen Finger hatten noch nicht einmal die dunkle, geölte Oberfläche der schweren Holztür berührt, da spürte Haven, wie sich die feinen Härchen auf ihrem Arm aufrichteten. Je näher ihre Fingerspitzen der Tür kamen, desto stärker wurde die Gänsehaut, bis plötzlich eine hervorschnellende Flamme ihre Fingerspitzen zu versengen schien.
»Was habt Ihr hier zu suchen?«
Beim Klang der strengen tiefen Stimme zuckte Haven zusammen und drehte sich sofort herum. Furcht überkam sie. Sie wusste, wer ihr dort am Treppenabsatz gegenüberstand, denn offensichtlich gab es kaum etwas, das dem wachsamen Burgherrn entging.
»Ich bin nur ein wenig herumgegangen. Ich wollte auf das Dach des Burgfrieds steigen«, versuchte sie sich zu verteidigen.
»Da seid Ihr hier ganz falsch«, beschied er ihr schroff.
»Tatsächlich«, flüsterte sie und rieb sich immer noch die Hand, die für einen kurzen Moment von einer unbestimmbaren Hitze erfasst worden war. »Jetzt sehe ich, dass ich hier nicht
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