Der Kelch von Anavrin: Das magische Siegel (German Edition)
ausgedrückt?«
Sie gab sich keine Mühe, ihrer knappen Antwort die Schärfe zu nehmen. »Vollkommen, Mylord.«
»Aber da ist noch etwas«, sagte er, als sie sich bereits zum Gehen wandte. Haven zögerte und wandte sich langsam zu ihm um. »Das, was sich gestern zwischen uns im Garten abgespielt hat … «
»Da war nichts«, wiegelte sie rasch ab, sah jedoch zu Boden, da sie seinem Blick nicht standhalten konnte.
»Ah, nichts«, wiederholte er, und seine leise Stimme klang skeptisch, beinahe beleidigt. »Ihr sollt wissen, dass es nicht meiner Gewohnheit entspricht, meinen Gästen zu nahe zu treten. Ich hatte nicht das Recht, so kühn vorzugehen, schon gar nicht vor den Augen einer schwatzhaften Dienstmagd.«
»Enid«, wisperte Haven und entsann sich des verwirrten Blicks der Küchenmagd, als diese nichts ahnend den Garten betreten hatte. »Die Magd heißt Enid.«
Kenrick runzelte die Stirn, denn mit dem Namen konnte er offenbar nichts anfangen.
»Sir Thomas, Euer Wächter am Seiteneingang des Burgfrieds, würde ihr gern den Hof machen, aber er traut sich nicht recht, sie zu fragen, und sie ist zu scheu, um seine ehrbaren Absichten zu erkennen.«
»Ist das so?«
Haven nickte. »Das Kind, das Ariana gestern besucht hat, ist die Tochter von Sir Thomas. Sie heißt Gwen. Ihr ist gestern im Hof ein Missgeschick passiert, und da wollte Eure Schwester nach ihr schauen und sie mit frischem Backwerk aus der Küche etwas aufmuntern.«
Er verschränkte die Hände hinter dem Rücken, verlagerte das Gewicht auf die Fersen und betrachtete Haven mit einem Blick, dem Neugierde und Erstaunen innewohnten. »Ihr beschämt mich. Ihr weilt erst seit Kurzem in der Burg, und doch wisst Ihr mehr über die Bewohner als ich.«
»Ich weiß, dass sich die Leute auf Clairmont Castle in Gegenwart ihres Herrn unwohl fühlen. Manch einer fürchtet sich vor Euch, Mylord.«
»Tun sie das?« Kenrick musterte sie, ihre Feststellung weder bestätigend noch leugnend. »Und was ist mit Euch? Fürchtet Ihr Euch auch vor mir?«
»Nein«, erwiderte sie und bemühte sich, die Unruhe zu überspielen, die sie erfüllte, als er die wenigen noch verbliebenen Schritte auf sie zukam.
Sie begriff, dass er sie einzuschüchtern versuchte. Er war sich der Wirkung seiner gebieterischen Ausstrahlung und seiner durchdringenden blauen Augen genau bewusst, als er alles daransetzte, das gleiche Zittern in ihr auszulösen, das die übrigen Burgbewohner in seiner Gegenwart spürten.
Doch in diesem Augenblick vermochte sie, in ihn hineinzusehen. Seinem durchbohrenden Blick standhaltend, gewahrte Haven die Einsamkeit tief in der Seele des Ritters. Und doch war er darum bemüht, sich jeden vom Leib zu halten.
Tatsächlich kannte Haven dieses Gefühl der Leere aus eigener Erfahrung; auch in dieser Hinsicht hatte sie mit Kenrick of Clairmont etwas gemein.
»Ich denke, Ihr habt Euch deutlich genug ausgedrückt, Mylord«, gab sie zurück und ließ sich nicht von ihm einschüchtern. »Die Mittagsmahlzeit wird nun aufgetragen. Wenn Ihr erlaubt, ich habe eine der Küchenmägde gebeten, mir ein Tranchierbrett in der Küche zurückzuhalten.«
»Das ist doch lächerlich«, sagte er, als spüre er ihre kleine Lüge. »Zugegeben, ich bin vielleicht nicht der beste Gastgeber, aber keiner meiner Gäste braucht in den Küchenräumen zu essen, wo auch die Hunde ihr Futter bekommen. Ihr werdet auf der Empore speisen, wie es jedem Gast zusteht – an der Seite des Burgherrn.«
Kenrick bedeutete Haven, sie möge die Stufen als Erste hinuntersteigen. Sie folgte der Aufforderung in bedächtigem Schweigen, doch er merkte, dass ihr die Aussicht, unten in der Großen Halle neben ihm an der Tafel ausharren zu müssen, alles andere als lieb war.
Wenn er ehrlich zu sich war, behagte ihm der Gedanke auch nicht sonderlich.
Nachdem er sie im Garten unerlaubterweise berührt hatte und denselben Fehler eben beinahe wieder begangen hätte, fragte er sich mit Recht, ob er sich selbst noch trauen durfte, wenn er sich in der unmittelbaren Nähe dieser bezaubernden Schönheit befand. Er war schroffer als beabsichtigt zu ihr gewesen. Begehren und Argwohn waren wie die zwei Schneiden einer Klinge, als er entdeckt hatte, dass diese Frau allein im obersten Stockwerk des Burgfrieds herumschlich.
Er konnte ihr nicht ganz trauen – Gott allein wusste, dass es überhaupt nur wenige Menschen gab, die er ins Vertrauen ziehen durfte – , aber das änderte nichts an der Tatsache, dass es ihn nach ihr
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