Der Kelch von Anavrin: Das magische Siegel (German Edition)
Haven stieß die verdrehte Zudecke von sich und stand auf. An einem Haken an der gegenüberliegenden Wand hing der Mantel, den Ariana ihr geborgt hatte. Haven legte ihn sich um die Schultern und verschlang die Bänder zu einem raschen Knoten.
Die Tür zu ihrer Kammer war zwar geschlossen, aber mit keinem Schloss bewehrt. So schob sie den Riegel zurück und trat auf den stillen Korridor hinaus. Zu dieser späten Stunde waren alle Bewohner des Wohnturms längst zu Bett gegangen. Schnell, aber vorsichtig schritt Haven den Gang entlang in Richtung der Treppe. Sie brauchte Platz und frische Luft zum Atmen, um die fürchterlichen Gedanken abzuschütteln, die sie im Schlaf heimgesucht hatten.
Barfuß erklomm sie die schmale Treppe, die zum Dach des Turms führte. Der heftige Wind drückte gegen die Holztür, als Haven die obere Plattform betrat. Sie schloss die Tür wieder, so leise wie möglich, denn sie wollte nicht die Wachen auf sich aufmerksam machen, die auf den Wehrgängen patrouillierten.
Ihr Herz raste noch von dem unruhigen Schlaf, der Atem kam ihr stoßweise über die Lippen. Nun lehnte sie mit dem Rücken an der Turmtür und zwang sich zur Ruhe. Umweht vom nächtlichen Wind fiel es ihr leichter, ruhig zu atmen. Die kühle Brise riss an ihrem Haar und bauschte ihren Umhangstoff. Das Gesicht dem kräftigen Wind zugewandt, genoss sie die kalte, frische Luft auf ihrer Haut.
Jetzt wirbelten die Erinnerungen nicht mehr durch ihren Kopf. Sie verblassten, die Stimmen verstummten, und all die Bilder verdunkelten sich mit jedem tiefen Atemzug. Doch während sich die Bilder ihrer Albträume wieder in die hintersten Winkel ihres Gedächtnisses zurückzogen, nahm etwas Neuartiges in ihrem Innern Gestalt an.
Es setzte ganz langsam ein, einem verführerischen Wispern gleich, das ihre Füße zwang, sich zu bewegen. Sie löste sich von dem schützenden Turmeingang. Je näher sie der Mauer kam, desto stärker blies ihr der Wind ins Gesicht. Drei Schritte noch, und sie war da; mit den bloßen Zehen berührte sie die hüfthohe Wehrmauer.
Jenseits des steil abfallenden Mauerwerks gab es nichts als Luft und weites Land.
Freiheit, ließ sich das Flüstern in ihrem Kopf vernehmen.
Haven blickte sich um und beobachtete die Wachmänner, die auf den Zinnen und auf der äußeren Ringmauer der Burg standen und miteinander sprachen. Keiner sah sie dort oben auf dem Burgfried stehen.
Flucht, kam der zischende Befehl aus ihren tieferen Bewusstseinsschichten. Verlass diesen Ort noch heute Nacht … am besten jetzt gleich. Es wäre so einfach.
Einfach?, dachte sie, ihre eigenen widersinnigen Einflüsterungen hinterfragend, die eine solch abwegige Idee zuließen. Nun, dazu müssten ihr erst Flügel wachsen, damit sie das Dach des Wohnturms wie ein Vogel im Fluge verlassen könnte.
Unmöglich! Was für ein Irrsinn hatte von ihr Besitz ergriffen?
Und doch vermochte sie sich all dies so leicht auszumalen – wie sie auf die schmale Brüstung kletterte, dort oben stand, von Luft umgeben, das Gleichgewicht nur noch mit den Zehen auf den kalten Steinen haltend.
Sie würde in den Wind springen … und hinabschweben, als seien ihre Arme ausgebreitet wie die kraftvollen Schwingen eines Adlers.
Mit dieser Vorstellung geriet ein eigenartiges Kribbeln in Havens Fingerspitzen. Sie spürte, wie Wärme sie durchströmte, fühlte, wie sich eine unheimliche Kraft ihrer bemächtigte, die tief aus ihrem Innern aufstieg. Sie blinzelte, und mit einem Mal war ihr Sehvermögen erstaunlich scharf und selbst von der Dunkelheit der Landschaft, wie sie in der Nacht dalag, kaum noch beeinträchtigt.
Von allen Seiten nahm sie Bewegungen wahr: Wachen, die auf ihren Posten von einem Bein aufs andere traten; hohe, sich wiegende Gräser, die im Wind rauschten; kleine Geschöpfe der Nacht, die unten im Garten nach Futter suchten, während eine Eule im nahe gelegenen Waldstück lauerte, die Nachtaugen auf die Beute gerichtet.
Nicht weit von der äußeren Ringmauer unterhielten sich die Wachen mit gedämpften Stimmen, doch Haven verstand einzelne Wortfetzen. Einer klagte über Schmerzen in der Schulter; ein anderer brüstete sich in Gegenwart der gelangweilten Gefährten mit den Taten auf dem Schlachtfeld.
Selbst auf diese Entfernung konnte sie noch den süßlichen Duft von Arianas Blumen riechen, die unten im Garten blühten – jene lieblichen Wohlgerüche, die sich mit dem herben Geruch des dunklen, fruchtbaren Erdbodens vermischten. Sie konnte die geölten
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