Der Kelch von Anavrin: Das magische Siegel (German Edition)
Anblick.
Zu verlockend für Kenricks Empfinden, da er sich bewusst machte, dass er sich in Gedanken immer öfter bei dieser Frau aufhielt. Unwillkürlich stiegen verbotene Bilder vor seinem geistigen Auge auf, als er ihre Erscheinung in sich aufnahm und daran dachte, dass sich diese Frau nach einem langen und anstrengenden Tag nun allein mit ihm in seinen Gemächern befand.
Sie stand nicht weiter als eine Armeslänge von ihm entfernt. Vielleicht sogar weniger. Also hätte er doch mühelos ihre schlanke Hand, mit der sie im Augenblick über eine unebene Stelle seines Schreibpults strich, ergreifen und Haven an sich ziehen können. Hinter ihr, keine fünf Schritte entfernt, wartete eine gepolsterte Bank neben dem Kamin. Und von dort mochten es zehn weitere Schritte zur Schwelle des angrenzenden Schlafgemachs sein – und damit zu seinem großen Bett.
Keine zwanzig Schritte, und die Frau, die jetzt schweigend vor ihm stand, läge unter ihm auf weichen Pelzdecken und mit Daunen gefüllten Kissen.
Schon wenige Atemzüge später, und er hätte die Bänder ihres Gewandes gelöst, ihr die Kleidung abgestreift und den Anblick ihres bloßen Leibes genießen können.
Verflucht sei er!
Verflucht sei sein lästiger Hang, immerzu Berechnungen anzustellen. Mit einem schweren Seufzer griff Kenrick nach dem Weinkelch und leerte ihn in einem Zug.
»Es ist gewiss nicht leicht für Euch«, merkte Haven an.
Sie sah ihn eindringlich an, und einen Moment lang überlegte er, ob sich seine durchtriebenen Vorstellungen in seinem Gesicht gezeigt hatten.
»Ich sehe, dass es Euch immer noch sehr belastet – die Kerkerhaft, meine ich. Wenn ich daran denke, dass Ihr ein halbes Jahr in einem Verlies geschmachtet habt. Das muss eine Tortur gewesen sein.«
»Das war nicht das, was ich … « Er räusperte sich. »Ja, nun, am Anfang war es am schlimmsten. Nach einer Weile ging dann ein trister Tag in den nächsten über.«
»Aber die ganze Zeit dort zu sitzen und nie zu wissen, ob der nächste Tag womöglich der letzte wäre … «
»Ist es nicht genau das, was den Menschen von Geburt an begleitet – die Ungewissheit, dass das Leben jeden Moment vorbei sein könnte?« Ein feines, beinahe zynisches Lächeln erschien auf seinem Gesicht, als er ihren Blick einfing und sah, dass Haven die Stirn krauszog. »Wie dem auch sei, ich habe damals rasch begriffen, dass mein Entführer mich nicht töten, sondern mir die Zunge lösen wollte. Und mich zu zermürben suchte.«
»Warum hat er das getan?«
»Weil ich über ein Wissen verfüge, das er benötigt.«
Ihr Blick wanderte zu den ungeordneten Stapeln von Schriftstücken und Karten auf dem Schreibpult. »Habt Ihr Euer Wissen preisgegeben?«
»Es gelang ihm, etwas von dem, wonach er suchte, in seinen Besitz zu bringen. Zu viel zwar, bedauerlicherweise, aber eben nicht alles.«
»Und was immer Ihr auf Greycliff Castle verloren habt«, sagte Haven, »wird diesen Mann zu dem Drachenkelch führen.«
Kenrick hielt dem allzu scharfsichtigen Blick stand, mit dem sie ihn musterte, und war um einen gleichgültigen Tonfall bemüht. »Ich sagte Euch ja bereits, dass der Drachenkelch ein Mythos ist.«
»Ja, das waren Eure Worte.« Ohne den Blick von ihm zu wenden, machte sie einen Schritt auf ihn zu. »Ein Großteil meiner Erinnerungen wurde an jenem Tag ausgelöscht, aber Ihr müsst nicht glauben, dass das Fieber auch mein Denkvermögen in Mitleidenschaft gezogen hat.«
Als er ihren Worten mit Schweigen begegnete, stieß sie einen Seufzer aus und schüttelte den Kopf.
»Die Männer, die Eure Freunde getötet haben, sind aus einem ganz bestimmten Grund nach Greycliff gekommen. Ihr habt mich gefragt, wonach sie gesucht haben, aber ich denke, dass Ihr die Antwort bereits wisst. Warum wurden Rand und Elspeth und der Junge umgebracht, Kenrick? Sagt mir, warum sie in jener Nacht ihr Leben lassen mussten.«
»Das habe ich Euch schon gesagt«, erwiderte er, und abermals schlich sich großer Kummer in seine Stimme. Nie war die Last seiner Schuld drückender gewesen. »Sie starben meinetwegen.«
»Aber was genau war geschehen?«
Kenrick spürte, dass seine Mundwinkel zuckten, als er sich seiner Vergangenheit stellte. »Bevor ich von Silas de Mortaine gefangen genommen wurde, schloss ich mich den Rittern Christi vom Tempel Salomons an. In diesem Orden war es unter anderem meine Aufgabe, mich mit verschiedenen heiligen Orten zu beschäftigen und Berichte von angeblichen Wundern und anderen unerklärlichen
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