Der Kelch von Anavrin: Geheimnisvolle Gabe (German Edition)
Kate fiel. Eben noch hatte sie von sonnigen Tagen und blauem Wasser geträumt, von rauschenden Festlichkeiten auf einer Burg … und von Rand. Träge richtete sie sich auf dem Lager auf und warf ihr üppiges Haar zurück. Noch ganz schlaftrunken, entdeckte sie kleine Gegenstände auf dem Fenstersims – winzige, geschnitzte Figuren standen dort nebeneinander.
Sofort sprang Serena auf, um sie näher zu betrachten, und lächelte, als sie die Formen erkannte.
Es waren Tauben.
Rand hatte gleich eine ganze Taubenfamilie geschnitzt, die sich zu der ersten Figur gesellte, die er vor einigen Tagen bei den Blaubeerbüschen angefertigt hatte. Das größte dieser neuen Kunstwerke war nicht viel größer als ihr Daumen, und doch machten sämtliche Tierfiguren einen sehr detailgetreu gefertigten Eindruck. Über das ganze Gesicht strahlend, berührte Serena jedes anmutige Köpfchen und jede der fein gearbeiteten Schwingen, die sich an die Taubenkörper schmiegten.
Oh, Rand. Sie spürte, wie ihr Herz schneller schlug, wenn sie voller Zuneigung an den Mann dachte, der so viel Freude in ihr Leben gebracht hatte. Da ihre Mutter noch auf ihrem Lager schlummerte, schlich Serena durch die Hütte und schlüpfte ins Freie, auf der Suche nach Rand.
Im Vorgarten war niemand, Rand war nirgendwo zu sehen. Dann ist er vielleicht unten am Strand, dachte sie. Mit einem fröhlichen Lächeln auf den Lippen nahm sie den Waldpfad, der zum Küstenstreifen führte. Als sie den Strand erreichte, erblickte sie ihn. Er stand am Wasser, das Gesicht der See zugewandt. Das dunkle Haar wehte in der Brise, die dunkelbraune Fülle fiel ihm auf den Kragen eines tiefblauen Umhangs, den sie noch nie an ihm gesehen hatte.
Wie mochte er an dieses Kleidungsstück gekommen sein?
Ein kurzer Moment der Unruhe befiel sie, doch dann drehte der Mann den Kopf ein wenig zur Seite, und Serena sah sein Profil: die Stirnpartie, die Nase, die Gesichtszüge, die ihr so vertraut waren und die sie so liebte. Mit wenigen Schritten war sie bei ihm.
»Falls du glaubst, weiter mit hübschen Geschenken um mich werben zu müssen, kann ich dir gestehen, dass ich dir bereits ganz und gar ergeben bin.«
Rand zog eine Braue hoch und drehte sich langsam zu Serena um.
»Die Figuren sind wundervoll, Rand. Ich … «
»Nun, sieh an. Wie lieblich du bist, gerade aus dem Schlaf erwacht?«
Die Worte klangen merkwürdig aus seinem Mund, aber es war noch etwas anderes, das sie innehalten ließ. Er lächelte sie an. Eigentlich hätte sie Freude verspüren müssen, dieses Lächeln zu sehen, aber etwas machte sie stutzig.
»Dein Bart«, sagte sie zögernd. Sie war sich nicht einmal sicher, ob sie die Worte laut ausgesprochen hatte, denn mit einem Mal spürte sie Furcht in sich aufsteigen. »Rand … ?«
Die Gestalt vor ihr hob eine Hand und strich sich über die dunklen Barthaare an Wangen und Kinn. Wie war das möglich? Sein Gesicht müsste doch glatt rasiert sein – wie noch vor wenigen Stunden.
»Gefällt dir das nicht, meine Liebe? Komm zu mir und lass dir zeigen, wie sanft ich sein kann.«
Serena trat zögernd einen Schritt zurück, als der Mann – diese Gestalt, die wie Rand aussah, aber nicht ihr Geliebter sein konnte – langsam auf sie zukam.
»Wer seid Ihr?«
Nun verzog der Mann die Lippen zu einem anzüglichen Grinsen und entblößte auffallend lange Zähne, die eher zu einem Tier als zu einem Menschen passten. Der Knauf eines großen und todbringenden Schwerts glänzte an dem Gehenk, das um seine Hüften gewunden war. »Ich? Aber du kennst mich doch. Keine Angst, meine Liebe. Ich bin Randwulf, Herr von Greycliff … «
»Nein«, rief sie und wich noch weiter zurück. »Nein, Ihr seid nicht Rand. Ihr seid … etwas anderes.«
Die Gestalt gab ein Kichern von sich, und plötzlich verschwammen die Konturen von Rands Gesicht. Serena erhaschte einen Blick auf die tatsächlichen Züge dieses Trugbildes: Gelb glomm die Iris um längliche Pupillen, der scharf geschnittene Schädel verjüngte sich zu einem raubtierartigen Kiefer. »Du bietest diesem Mann Unterschlupf, und er hat etwas bei sich, das ihm nicht gehört.«
Der Gestaltwandler kam näher, seine schweren Stiefel verwandelten sich in struppige schwarze Pfoten. Dicke Krallen bohrten sich in den Sandboden, als das Geschöpf einen weiteren Schritt in ihre Richtung machte. Serena schwankte leicht, traute sich aber nicht, den Blick von dieser bedrohlichen Erscheinung zu wenden, um nach einer Fluchtmöglichkeit Ausschau zu
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