Der Kelch von Anavrin: Geheimnisvolle Gabe (German Edition)
mochte. Die schlicht gekleidete junge Frau aus der Waldhütte wollte sie hinter sich lassen. Heute Nacht würde sie ihm zeigen, wie gut sie in seine Welt passte und dass ihre Welt die seine war. Sie wollte ihm vor Augen führen, dass sie beide Welten genießen könnten, wenn er nur zu ihr zurückkehren würde.
Und wenn am nächsten Morgen die Stunde des Abschieds käme, dann sollte er spüren, wo ihre warmen Hände ihn berührt hatten. Sie wollte, dass er sämtliche Freuden ihres Liebesspiels in seinem Herzen bewahrte, so wie sie auch, bis der Tag des Wiedersehens käme.
23
Wie wenig sich der Ort doch verändert hatte. Silas de Mortaine konnte sich nicht mehr erinnern, wann er das letzte Mal in Egremont gewesen war – vielleicht war es Jahrzehnte her. Vermutlich noch länger. Ein eigentümliches Gefühl überkam ihn, wenn er daran dachte, dass er nicht weit von der Burg entfernt aufgewachsen war, die ihm auf der Anhöhe einst so bedeutsam und groß vorgekommen war. Doch was war diese Festung im Vergleich zu all den Orten und Landstrichen, an die er sich seitdem begeben hatte? Was hatte er nicht alles gesehen, welche Vergnügungen ausgekostet!
Mit der Rückkehr in diese Grafschaft im Norden schloss sich für ihn ein Kreis. Wie sonderbar, dachte er, denn er war wohl kaum der verlorene Sohn, der wieder aufgenommen werden wollte oder, noch lachhafter, auf Vergebung hoffte. Alle Leute, die er in jungen Jahren gekannt hatte, waren fort. Nun gab es in ganz Egremont niemanden mehr, der sich an den ehrgeizigen Ritter erinnerte, der aus dem Nichts gekommen war, aber immer gewusst hatte, dass er für etwas Großes bestimmt war. Keinen Augenblick hatte er daran gezweifelt. Doch niemand hatte ihm geglaubt.
Wie sie sich alle geirrt haben, dachte er mit einem grimmigen Lächeln.
Nie war sich Silas de Mortaine verehrungs- und anbetungswürdiger vorgekommen als in diesem Moment, da er auf seinem stolzen weißen Hengst auf den Marktplatz von Egremont ritt. Nie hatte er sich mächtiger gefühlt, denn er hatte nicht nur die kleine Schar Gestaltwandler an seiner Seite, sondern auch den goldenen Kelch Avosaar bei sich, den er in einer kleinen Schatulle aufbewahrte. Doch seine Machtfülle war noch nicht erschöpft.
Der ganze Drachenkelch stand ihm zu. Er würde den Schatz bekommen, und wenn er dafür jedes Haus durchsuchen und jeden Mann erschlagen musste, der sich ihm in den Weg stellte.
Mit abschätzigen Blicken musterte er das Treiben auf dem Marktplatz. Von überallher schienen die Leute in die Stadt geströmt zu sein. Egremont wirkte beinahe festlich, edel gewandete Herren mischten sich unter das gemeine Volk und prachtvolle Fahnen schmückten den Platz.
Silas winkte Draec le Nantres heran, der ebenfalls in anmaßender Haltung im Sattel saß. Ein Ausdruck von Verachtung lag in den beunruhigenden grünen Augen des Ritters.
»Nehmt Euch einen Wächter und seht nach, was in der Stadt vor sich geht. Wenn Greycliff hier sein sollte, dürfte es schwer werden, ihn in der Menge ausfindig zu machen.«
»Wir fassen ihn«, versicherte ihm le Nantres.
Er wählte einen der Gestaltwandler aus und bahnte sich zu Fuß seinen Weg durch die Menschenmenge.
Silas de Mortaine sah seinen Gefolgsleuten nach und fragte sich, wie lange Draec le Nantres noch abzuwarten gedachte, ehe er seinen Herrn verraten würde.
Rand verscharrte die Leiche des Gestaltwandlers tief im Wald. In den vergangenen Stunden hatte er keine Spur möglicher Gefahren gefunden. Doch das war gewiss nur eine Frage der Zeit.
Immer wieder fragte er sich, wie es dem Gestaltwandler gelungen war, ihn bei der Waldhütte aufzuspüren. Die Sinne dieser Geschöpfe waren geschärft, wenn es um den Drachenkelch ging; Kenrick hatte ihm einst erzählt, dass die Abgesandten aus Anavrin den Kelch auf große Entfernung witterten, da sie durch ihr anavrinisches Blut an das Artefakt gebunden waren. Kein Sterblicher vermochte sich diese Magie zu erklären. Und während er über diese Fragen nachdachte, fiel ihm wieder ein, was Serena gesagt hatte: dass der Gestaltwandler überzeugt gewesen war, ein Teil des Schatzes befinde sich ganz in der Nähe.
Wie war das möglich?
Immer wieder hatte er den Küstenstreifen abgesucht und doch nichts gefunden. Seit seiner Ankunft hatte er keinen Schritt in den Wäldern oder am Wasser getan, ohne nach Anzeichen des verlorenen Schatzes Ausschau zu halten, aber alles war umsonst gewesen. Beim Heiligen Kreuz, selbst in der Waldhütte hatte er keinen Winkel
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