Der Kelch von Anavrin: Geheimnisvolle Gabe (German Edition)
drohte uns Gefahr. Aber ich war jung, und er war schön mit seinem goldenen Haar, und als ich ihn durch den Wasserfall anrief, hörte er meine Stimme.«
Serena schluckte schwer, denn diese Geschichte war ihr vertraut, doch jetzt erhielt die Sage von einst durch Calandras Vortragsweise die Züge der Wirklichkeit. Der Schreck fuhr ihr durch alle Glieder.
»Er war schwer verwundet, blutete stark. Er lag im Sterben. Nichts hätte ihn in seiner Welt retten können, doch in meinem Reich gab es Hoffnung.«
»Der Drachenkelch?«, fragte Serena atemlos und kam nicht über ein Flüstern hinaus. »Mutter, dann warst du das in der Sage selbst? Du bist die anavrinische Prinzessin, die dem Sterblichen aus dem goldenen Kelch zu trinken gab?«
»Ich konnte ihn nicht sterben lassen. Ich liebte ihn vom ersten Augenblick an. Und er sagte mir, er erwidere meine Liebe. Er hätte mir alles versprochen, damit ich ihm auch wirklich half.«
»Du hast ihm Unsterblichkeit gegeben«, sagte Serena. »Du hast ihm Leben geschenkt, und er stahl den Drachenkelch aus deinem Reich.«
»Ich konnte meinen Fehler nicht ungeschehen machen. Der Frevel war zu groß. Das erkannte ich in dem Augenblick, als wir durch den Wasserfall gingen, denn da sah ich, dass er den Kelch unter dem Arm hatte, halb verdeckt unter seinem Umhang. Doch zu diesem Zeitpunkt war es bereits zu spät.«
»Nein«, murmelte Serena und wollte nicht wahrhaben, was sie eben gehört hatte, denn es klang einfach unglaublich. »Wie kann das sein? Diese Geschichte ist uralt – Hunderte von Jahren alt.«
»Ja, das stimmt. Gemessen in der Zeitrechnung der Sterblichen ist die Sage sehr alt.«
»Aber wie kannst du dort gewesen sein? Du bist meine Mutter!«
Calandra schüttelte langsam den Kopf. »Deine Mutter starb kurz nach deiner Geburt. Tödlicher Stahl raubte deinem Bruder das Leben, als die Sterblichen dieser Welt von seiner Gabe der Ahnung erfuhren. Deine Schwester, die ebenfalls diese Gabe besaß, schenkte ihr Herz einem Mann, der sie schon bald wegen ihrer Fähigkeit verachtete. Sie starb an gebrochenem Herzen. Du aber, Serena … du solltest es anders haben, das gelobte ich. Ich wollte dich in Sicherheit bringen und vor der Niedertracht der Menschen schützen. Ich habe dich großgezogen, Serena, denn ich bin zurückgeblieben, um alle Kinder meiner Kinder aufzuziehen. Viele Generationen. Aber du bist die Letzte. Du bist so kostbar für mich; du bist die Einzige aus unserer Linie in der Welt der Sterblichen.«
Serena schaute hinab auf ihre Hände, die sie zum ersten Mal in ihrem Leben verachtete … wie auch die ungewollte Gabe der Ahnung. »Ich bin verflucht«, wisperte sie. Nur mühsam brachte sie die Worte hervor, ihr Hals war trocken und heiser. »Ich bin abscheulich.«
»Nein, das bist du nicht.« Calandra fixierte sie mit einem strengen Blick. »Du bist sogar einzigartig – in dieser Welt wie auch in Anavrin. Die Gabe der Ahnung ist selten, selbst in dem Reich, aus dem ich komme, Serena. Nur wenigen meiner Linie ist ein so klarsichtiger Blick auf das Wahre im Leben vergönnt. In Anavrin würde man dich ehren wie kaum einen anderen.«
Aber Serena kümmerte es nicht, wie sie woanders womöglich betrachtet wurde, denn sie gehörte in ihre Welt, in die Welt, in der sie Rand ihr Herz geschenkt hatte. Und in eben dieser Welt verlor sie alles, was für sie von Bedeutung war: Ihre Herkunft entpuppte sich als Lügengebäude, ihre Gegenwart bestand nur noch aus einem Geflecht aus Verwirrung und Schmerz, und was ihre Zukunft betraf, so war sie nie unsicherer gewesen. Doch nach wie vor gab es Fragen, auf die sie Antworten brauchte, ganz gleich, wie furchtbar diese Antworten auch sein mochten.
»Was ist mit dem Mann?«, fragte sie, immer noch wie betäubt von Calandras Enthüllungen. »Was wurde aus dem Mann, den du einst gerettet hast und der an jenem Tag den Drachenkelch aus Anavrin entwendete? In der Legende heißt es, durch den Trunk, den du ihm gabst, habe er Unsterblichkeit erlangt. Also lebt er noch?«
Für eine ganze Weile schwieg Calandra. »Ja, er lebt noch. Und nach all den Jahren – nach all den Jahrhunderten in dieser Welt, die seit jenem Tag verstrichen sind, als ich in meiner Leichtfertigkeit Anavrin und mich selbst mit einem Fluch belegte – ist er immer noch auf der Suche nach dem Drachenkelch, den er für sich beansprucht.«
»Oh, beim Allmächtigen.« Serena sank das Herz, obwohl sie längst geahnt hatte, dass sich ihre schlimmste Befürchtung bewahrheiten
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