Der Kelch von Anavrin: Geheimnisvolle Gabe (German Edition)
das Gefühl gehabt, in eiskaltes schwarzes Wasser zu stürzen. Übelkeit überkam sie, ihre Knie drohten nachzugeben. Aber Serena hielt durch, war sie doch fest entschlossen, Silas de Mortaine öffentlich anzuklagen. Gern nahm sie die Schmerzen, die sie nun litt, in Kauf, sofern dieser Schurke für seine Verbrechen in Haft genommen wurde.
Unscharfe Gesichter tauchten vor ihrem geistigen Auge auf und entschwanden wieder in der Unendlichkeit – zahllose Leben, die de Mortaine auf dem Gewissen hatte; viele Menschen hatte er selbst erschlagen. Sie sah grauenhafte Morde, hörte die Schreie der gefolterten Seelen, an deren Qualen sich dieser Schurke ergötzt hatte.
Möge die Wahrheit seiner bösen Taten als Zeugnis gegen ihn verwendet werden, dachte Serena und fand in ihrer Verachtung für diesen Mann zu neuer Kraft. Sie umklammerte seinen Arm fester und fühlte, wie sich das Böse in jede Faser ihres Leibes brannte. Inmitten eines Sturms aus Schmerz, der bis in ihre Seele drang, wurde die Ahnung deutlicher und sah schonungslos in de Mortaines schwarzes Herz.
Schneller und immer schneller erfassten sie die Visionen, eine nach der anderen. Serena nahm jede sündhafte Tat, die er vollbracht hatte, in sich auf, sah jedes verruchte Verbrechen und jeden bösen Traum, der in seinem toten Herzen lauerte. Dann begann sie, jede unfassbare Einzelheit vor den edlen Gästen in der Großen Halle darzulegen.
… ein älterer Mann namens Delavet, gewandet in eine weiße Robe … liegt auf dem gekachelten Boden seiner Kirche … Silas’ Hände legen sich um seinen dünnen Hals, bis das Genick bricht …
… Lara, Abgesandte aus Anavrin … wagte es, Silas zu verraten … sie bezahlt mit dem Leben – verglüht in einem Feuerball aus einer anderen Welt …
… ein unterwürfiger Kirchenmann wird von den Fangzähnen und grausamen Klauen zweier Gestaltwandler zerrissen … Geschöpfe, die in Silas’ Auftrag handeln …
… Silas selbst steht im verfallenen Kreuzganghof einer Abtei, im Mondlicht … schreitet in das Herz eines prasselnden Feuers und entsteigt den Flammen wieder unversehrt …
Es gab noch andere Beweise seiner Hexenkunst. Zahllose andere Unschuldige verloren ihr Leben, wurden von de Mortaines dunklen Kräften geradezu zermalmt. Serena verkündete all diese Verbrechen, bis sie kaum noch in der Lage war, die Gräuel in Worte zu kleiden. Und immer noch hatte sie nicht das ganze Ausmaß der Verbrechen offengelegt.
»Ich denke, das genügt nun«, höhnte Silas, als Serena schwer atmend und mit eingezogenen Schultern dastand. Er entzog sich ihrer nun schlaffen Hand und wandte sich mit gönnerhafter Miene an die versammelten Gäste. »Haben wir nicht alle genug von diesem schändlichen Gerede?«
»Das sind schwerwiegende Anschuldigungen, Mylord«, ließ sich de Moulton von seinem Platz an der Tafel vernehmen.
»Alles Lügen – Verirrungen eines kranken Geists«, entgegnete Silas scharf.
»Dann leugnet Ihr also all diese Vorwürfe?«
»Ob ich sie leugne? Ich weise sie als Irrsinn zurück! Nein, schlimmer noch – die Art und Weise, wie diese Frau von Hexerei und bösen Taten spricht, lässt in mir den Verdacht aufkommen, dass sie sich selbst der Hexenkunst bedient. Und daher sage ich Euch, dass die Gefahr, die uns hier droht, am ehesten von diesem hübschen Gesicht ausgeht.«
Forsch umfasste er ihr Kinn, sodass sich seine Fingernägel tief in ihre Haut bohrten. Serena wimmerte, unternahm jedoch nichts, um sich der Hand zu entledigen. Sie war ihrer Kraft beraubt und hatte Mühe, sich auf den Beinen zu halten. Die Ahnung hatte sie so sehr geschwächt, dass sie nichts mehr von der Boshaftigkeit dieses Mannes in sich aufnehmen konnte, dessen verderbtes Blut auch durch ihre Adern floss. Selbst wenn Generationen zwischen ihr und diesem Ungeheuer lagen.
»Schaut sie doch an! Spricht nicht der Teufel aus ihr? Hat er sich nicht ganz und gar ihrer Gestalt bemächtigt, um uns zu täuschen? Das wahrhaft Böse ist am Werk, und zwar in dieser Hexe!«
»Ja!«, erschallte ein Ruf aus der Menge der Gäste. »Ja, das kann ich bestätigen! Ein paar Tage ist es erst her, da wurde ich Zeuge ihrer Hexenkunst!«
Serena drehte den Kopf und schaute mit schweren Lidern in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war. Auf einer Bank stand ein beleibter Mann, der aus der Tiefe der Großen Halle zu Serena herüberstarrte.
»Diese Frau kam an meinen Verkaufsstand am Markttag. Sie zwang mich mit ihren Hexenkünsten, viel Geld für ein
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