Der Kelch von Anavrin: Geheimnisvolle Gabe (German Edition)
wie sie lachte, mit staunenden Blicken um sich sah und aufgeregt all das in sich aufnahm, was sie bislang nicht gekannt hatte. Für einen sonderbaren Augenblick wollte er derjenige sein, der sie in diese Welt einführte.
Das war widersinnig, gewiss. Zudem rücksichtslos und selbstsüchtig, denn als Begleiter war er keine gute Wahl, wenn der Weg vor und hinter ihm voller Feinde war. Sich in seiner Nähe aufzuhalten, sei es in der Einsamkeit des Waldes oder an einem anderen Ort, könnte sich als tödlich erweisen. Indem sie ihm halfen und Unterkunft boten, könnten Serena und ihre Mutter unweigerlich Zeugen des Krieges werden, der um den Drachenkelch geführt wurde – und diesen Preis sollten sie nicht zahlen. Das hatte Rand beschlossen.
Diese Vorstellung machte ihm auch jetzt noch Sorgen, nachdem sie zur Waldhütte zurückgekehrt waren. Serena war längst im Haus verschwunden, um ihrer Mutter bei der Zubereitung der Abendmahlzeit zu helfen.
Rand begab sich ein weiteres Mal an den Strand, von Ungeduld zerrüttet. Seine Verletzungen schmerzten noch immer. Die Wunden heilten zwar, doch es ging ihm nicht schnell genug. Jeder Moment, den er mit Serena verbrachte, bedeutete eine weitere Versuchung. Jeder Blick aus ihren wasserblauen Augen verhieß ihm eine Welt, in der er sich verlieren wollte – eine Welt voller Sinnlichkeit, der er sich nur zu gern öffnen würde.
Verärgert über seine eigene Schwäche, nahm Rand einen ausgeblichenen, knorrigen Ast vom Boden auf, den das Meer angespült hatte, und schritt voller Anspannung die Küste entlang. Hier und da schlug er gegen Treibgut und zog den langen Stock dann hinter sich durch die zurückweichenden Wellen, in einem weiteren vergeblichen Versuch, den verlorenen Schatz wiederzufinden.
Als er kehrtmachte und wieder die Stelle erreichte, an der er begonnen hatte, entdeckte er Serena weiter oben am Strand. Die hohen Bäume hüllten sie in dunkle Schatten. Schließlich trat sie in die Sonne des späten Nachmittags, die behandschuhten Hände locker ineinander verschränkt.
»Ich wollte Euch nicht stören.«
»Das hast du nicht.«
»Ihr seid schon eine ganze Weile hier. Habt Ihr irgendetwas gefunden?«
»Nein.« Rand rieb sich den dunklen Bart und blickte dann auf die offene See. »Alles, was ich heute finden konnte, war das alte Leinentuch.«
»Das tut mir leid«, sagte Serena aufrichtig. »Ich könnte Euch bei der Suche nach dem Kelch helfen. Das heißt, wenn Ihr das wollt.«
Rand schwieg, als er sich Serena zuwandte. Er spürte, dass er in ihrer Gegenwart von einer großen Ruhe durchströmt wurde. Allein durch ihre Anwesenheit nahm sie all seine Sinne gefangen und forderte seine ganze Aufmerksamkeit. Er zuckte abweisend mit den Schultern.
»Du brauchst mir nicht zu helfen, Serena, das ist allein mein Problem. Damit werde ich selbst fertig.«
»Gewiss«, erwiderte sie leise. »Ich dachte bloß, ich könnte … «
»Belassen wir es dabei.«
Er glaubte, sie fasse seine schroffen Worte als Abfuhr auf und werde gehen, aber er irrte sich. Sie legte den Kopf leicht schief und betrachtete ihn mit unverhohlener Neugier.
»Rand, mir ist bewusst, dass wir einander unter widrigen Umständen kennengelernt und uns gegenseitig misstraut haben. Aber inzwischen denke ich … hatte ich gehofft, wir könnten noch einmal von vorn anfangen – auf friedlichere Weise.«
Eine innere Stimme warnte ihn, dass jedes Vorhaben, ein friedliches Einvernehmen mit Serena herbeizuführen, unweigerlich einen neuen Kampf auslösen würde. Einen Kampf, den er mit sich selbst würde austragen müssen, um seinem Verlangen Einhalt zu gebieten. Er konnte nicht leugnen, dass sie eine gewisse Anziehung auf ihn ausübte, obwohl er sich dagegen sperrte und genau wusste, dass er Serena am Ende nur wehtun würde. Schwieriger war indes der Gedanke, ihr unschuldiges Angebot zurückzuweisen. Von ihrem zartfühlenden Blick konnte er sich nicht losreißen, und ebenso wenig vermochte er die Hoffnung zunichtezumachen, die in ihren blauen Augen leuchtete.
»Frieden«, sinnierte er und stieß die Silben beinahe grollend hervor. »Das Wort ist mir seit Langem schon fremd. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob ich noch weiß, was Frieden wirklich bedeutet, wenn ich ehrlich sein soll.«
»Schaut Euch doch um«, sagte sie und zeigte auf das Farbspiel des Waldes und auf den golden schimmernden Sandgürtel, hinter dem das tiefblaue Wasser begann. »Hier herrscht Frieden. Wollt Ihr nicht ein wenig davon in Euer Herz
Weitere Kostenlose Bücher