Der Kelch von Anavrin: Geheimnisvolle Gabe (German Edition)
lassen?«
Er blickte sie stumm an, obwohl er nichts lieber wollte, als ihr zu widersprechen. Aber ihr scheues Lächeln rief eine seltsame Enge in seiner Brust hervor, und ihre offenherzige Unschuld machte ihm die Zunge schwer.
»Kommt und esst mit uns zu Abend, Rand. Ich habe schon ein Gedeck für Euch aufgetragen. Ihr müsst doch hungrig sein.«
Das war er in der Tat. Sein Bauch fühlte sich leer an, sein Körper brauchte dringend Ruhe und eine warme Mahlzeit. Eher widerwillig, mit hochgezogener Braue und einer angedeuteten Verbeugung, fügte sich Rand dem Willen der jungen Frau und folgte ihr zur Hütte. Sowie er eingetreten war, freute er sich, das Angebot der Gastfreundschaft angenommen zu haben. Sogleich umfing der wohlriechende Duft von frisch gebackenem Brot und warmem, mit Honig gesüßtem Met seine Sinne. Ein kleines Feuer knackte in der offenen Herdstelle und erfüllte die bescheidene Behausung mit einem goldenen Schein. Auf dem einfachen Tisch standen drei Schalen. Serenas Mutter rührte im Kochtopf und bedachte Rand und ihre Tochter mit einem missbilligenden Blick, sagte jedoch nichts.
Rand trat an den Tisch und blieb verwirrt stehen. Neben dem Platz, den ihm die Frauen zugedacht hatten, stand ein Paar Stiefel mit Lederriemen. Über der Rückenlehne des Stuhls hingen eine schlichte Tunika aus rötlich eingefärbtem Leinen und abgetragene, rehbraune Beinkleider.
Rand hatte nie viel auf höfische Mode gegeben, aber selbst er konnte sehen, dass die Kleidungsstücke, wenngleich sie ausgebessert waren, sehr zu wünschen übrig ließen. Die Stiefel, die ungefähr seine Größe hatten, waren gewiss seit Jahrzehnten aus der Mode: An den Schienbeinen wurden sie über Kreuz mit Lederriemen festgezogen, die Metallschnallen waren bereits rostig und von der salzigen Seeluft angelaufen. Die Tunika und Beinlinge wirkten genauso alt und gewöhnlich; ein grob gesponnenes, abgetragenes Gewebe. Doch die Kleidung erfüllte ihren Zweck und war weitaus besser als die dürftigen, zerrissenen Lumpen, die Rand geblieben waren.
»Was ist das?«
»Kleidung«, sagte Serena, »für Euch.«
Sie lächelte ihn an und bot ihm dies als Geschenk dar, wie einen Olivenzweig, um die neuen Vereinbarungen für sein weiteres Bleiben zu besiegeln. Rand behagte die Freundlichkeit nicht recht, andererseits erschien es ihm gut, wieder richtige Stiefel zu haben und Kleidung für die Weiterreise, denn schon bald gedachte er aufzubrechen. Er griff nach der Tunika und hielt inne.
»Stimmt etwas nicht?«, fragte Serena. Sie nahm das lange Hemd und hielt es hoch, um die Größe einzuschätzen. »Dies waren die Kleider meines Vaters. Sie haben lange in einer der Truhen gelegen, sicher vor den Motten oder anderen widrigen Einflüssen.«
Die Kleider ihres Vaters? Dem Schnitt nach zu urteilen, hätten sie zu ihrem Großvater gepasst, vielleicht sogar zu dessen Vater.
»Ich habe ihn nicht kennengelernt«, fügte Serena hinzu, »aber er war ein großer Mann, so wie Ihr, hochgewachsen und breitschultrig. Nicht wahr, Mutter?«
Hoffnung lag in Serenas Stimme. Die ältere Frau indes schwieg und betrachtete die beiden mit einem Ausdruck von Bedauern und Verachtung. Nicht zum ersten Mal fiel Rand auf, wie eigenartig diese Frauen waren, bedingt durch das einsame Leben, das sie tief im Wald führten, weitab von den Menschen und nur aufeinander bezogen. Serena hatte ein offenes Wesen, war freundlich und voller Unschuld; ihre Mutter, die durch Jahre der Verbitterung älter wirkte, als sie war, misstraute jedem Menschen – außer ihrer Tochter.
Rand wollte keiner der Frauen zu Dank verpflichtet sein. Er brauchte nur sich selbst und den Zorn, der ihn am Leben hielt. Schon hatte er das Gefühl, dass die Tage an diesem Ort fast unmerklich ineinander übergingen. Durch Zufall war er hier gestrandet und blieb gerade so lange, bis er wieder ganz gesund war. Von ihnen brauchte er keine Freundlichkeit. Er wollte auch keine Rücksichtnahme und kein Mitgefühl.
Obwohl die Aussicht auf saubere und unbeschädigte Kleidung ein Geschenk war, das er nicht ausschlagen durfte, schüttelte Rand den Kopf. »Ich kann das nicht annehmen.«
»Hab ich es dir nicht gesagt?«, meldete sich nun die Mutter bissig zu Wort.
Serena reckte das Kinn empor und musterte ihn, als wäre er ein Sonderling, dessen Verhalten sie nicht verstand. »Ihr wollt die Kleidung nicht annehmen? Warum nicht?«
»Er ist ein Mann«, sagte Calandra tonlos. »Kein Geschenk kann ihn je zufriedenstellen. Ein
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