Der Kelim der Prinzessin
mächtigen Herrn entschieden. Doch die Stimmen entfernten sich wieder, nachdem ich etwas wie eine gekrächzte Einladung des Hausherrn zu einem gemeinsamen
Mittagsmahl vernommen hatte. Ich war enttäuscht, dann aber hörte ich ganz deutlich meinen Kustos von der Bibliothek her zu mir sprechen.
»Die Herrschaften sind zu der gemeinsamen Auffassung gelangt, dass Ihr, William von Roebruk, das gesamte Euch vorliegende Scriptum durchgelesen haben solltet, bevor Ihr vom Verstand her und der raschen Rezeption in der Lage wäret, einen Disput über Konzept und Konsequenzen sinnvoll niederzuschreiben - «
»Ich hab' Hunger!«, war die einzige Antwort, die mir darauf einfiel. »Ein gebratenes Huhn - oder mir fällt die Feder aus der Hand, bevor ich auch nur die erste Zeile notiert - «
Mein Kerkermeister auf der anderen Seite der Mauer überlegte nicht lange. »Wenn Ihr beim Umblättern keine Fettflecken auf den Pergamenten hinterlasst, bekommt Ihr das Gewünschte in einer Viertelstunde!«
Ich würde ihm auch gerne sagen, dass ich liebend gerne pinkeln würde, aber ich verkneif es mir.
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Dann kam das Huhn! Ich war so vertieft in das bizarre Gemälde meiner eigenen Jugendjahre, dass ich das Öffnen der schweren Tür gar nicht bemerkt hatte, erst wieder ihr geräuschvolles Zuziehen und Verschließen.
Man hatte mir den hölzernen Teller mit dem Tier, und einem Stück Brot, einfach in die Zelle geschoben, wie einem Strafgefangenen! Die Köche mussten auch nicht ganz bei der Sache gewesen sein, denn das Huhn war arg verbrannt. Da mein Kerker weder Stuhl noch Tisch aufwies, hockte ich auf dem Boden nieder, gleich neben dem Dreifuß meines Pults, zerriss den zähen Braten, stopfte mir die Bissen ins hungrige Maul, kaute erzwungenerma-
ßen ausgiebig und spülte dann mit dem Roten nach, von dessen kostbaren Tropfen ich auch einige zum Reinigen meiner fettigen Finger verwandte, bevor ich mich wieder hochstemmte.
In der Bibliothek kehrten die Stimmen zurück, hörbar aufgekratzt vom opulenten Mahle. Ich nehme noch schnell einen letzten Schluck und tauche die Feder ins bereitstehende Tintenfass.
Groß-Prior: »Jerusalem ist für immer verloren. Selbst wenn wir es zurückgewinnen sollten, werden wir es nicht halten können. Es ist nicht mehr mit einem Kreuzzug getan: Gewaltige Heerscharen müssten als Besatzer in der terra saneta stehen, um das Eroberte verteidigen zu können.«
Grande Maitresse: »Hundertfünfzig Jahre voller Gräuel und Ungerechtigkeiten, Bedrohung und Hass haben auf beiden Seiten so viel Verbitterung erzeugt, dass kein Frieden, keine Versöhnung mehr in Sicht ist.«
Groß-Prior: »Das alles erfüllt mich mit tiefer Trauer und Besorgnis.«
Grande Maitresse: »Das will ich Euch glauben, Karl de Gisors! Doch für jemanden wie mich, dem das Mittelmeer nicht Mare Nostrum der Römer ist, sondern mediaterra, also Bindeglied, nicht Trenngraben zwischen den Ländern des Morgen- und Abendlandes, ist der Zeitpunkt gekommen, verantwortungsvoll dieser beschämenden Entwicklung gegenzusteuern - «
Groß-Prior: »Und das wollt Ihr, werte Schwester, mit der Schaffung einer neuen dynastischen Blutslinie erreichen?«
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Grande Maitresse: »Ich kann im Wahlkönigtum den Finger Gottes nicht erblicken. Der gesalbte Herrscher wird gegeben, eingegeben! Außerdem, was heißt Ihr hier neu? Das wäre sie - weiß Gott - nicht! Ich zumindest kenne keine ältere, keine, die mit mehr Berechtigung antreten könnte - «
Groß-Prior: »Aber eine anerkannte Dynastie, deren Euer mediterranes Reich bedarf, ist nirgendwo in Sicht - «, und unverhohlen spottend legte er noch nach: »Nicht einmal eine Wurzel, eine Art Knolle, aus der sie sich herausschälen könnte!«
Grande Maitresse: »Noch nicht!« Marie de Saint-Clair musste erst ihre Erregung abklingen lassen, bevor sie die Sprache wieder fand. »Herr, ich bitte dich um Erleuchtung, welche Elemente des Abendlandes dem
Schmelztiegel beizugeben sind, welchen Adern der Lebenssaft entströmen soll, welche Tropfen Bluts der göttlichen Mischung unerlässlich sind? Herr, lass mich des lapis ex coelis teilhaftig werden, um das Große Werk zu vollbringen!«
»Es ist wohl eher ein penis excülis, dessen es hier bedarf!« Der Scherz kam nicht an. So legte der Groß-Prior eine Pause der Höflichkeit ein, bevor er einzulenken vorgab: »Sicher könnte die Basis in der Nachkommenschaft des Hauses David gegeben sein - «
Die Grande Maitresse spürte die falsche Freundlichkeit: »- im
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