Der Kelim der Prinzessin
anscheinend der Herr über all die in Leder gebundenen Folianten und von Wachs geschützten Manuskripte, kostbare illuminierte Bücher, die ich in hohen Regalen gestapelt bis unter die Decke erwartete. Doch in dem mir sich öffnenden Raum befand sich kein einziges Buch noch irgendeine Schriftrolle.
Allein ein Schreibpult stand bereit, inmitten der völlig kahlen Wände, reichlich Pergament war zu seiner Seite gestapelt, und von der Kuppel des Gewölbes hing eine nicht nur strahlend helles Licht verbreitende fünfarmige lucerna, auch deren Öle verströmten köstlichen Duft von Zimt und Kardamom, Rosen und Lavendel.
»Die rechte Mixtur, um die Stirn zu befreien und das Hirn anzuregen«, erläuterte mir lächelnd mein Kustos, während er sich zufrieden vergewisserte, dass ich mein eigen Feder und Tintenfässchen mit mir führte. Dann schritt er tippelnd zur Wand, wo in Hüfthöhe eine Art Schranktür bündig zum Mauerwerk und kaum auffällig eingelassen war. Der zierliche Greis zog sein gewaltiges Schlüsselbund und öffnete einen zweiflügeligen Verschlag. Doch dahinter kam sofort ein weiteres Portal zum Vorschein, eine kostbare Intarsienarbeit aus edlen Hölzern mit Elfenbein versetzt. Für diese Tür benötigte er schon vier Schlüssel von seinem Bund, um sie vollends zu entriegeln und ihre Flügel rechts und links zusammenzufalten, sodass endlich die dritte Pforte sichtbar wurde, ganz aus Eisen, nur ihre Zierbeschläge schienen mir aus Messing aufge-286
setzt. Sie dienten auch nur, die Schlüssellöcher zu verbergen, und es schien mir, dass die Einhaltung eines bestimmten, kunstvollen Ritus eingefordert wurde, mit dem der geschickte und sehr behende Alte die verschiedenartigen Barte zum Einsatz brachte, oft durch gegenläufiges Drehen. Schließlich öffnete sich der Berg Sesam zu einer kleinen dunklen Grotte. Der Kustos streifte sich einen ledrigen Fäustling über die feingliedrige Hand, griff in die Höhlung des Tresors und zog einen unscheinbaren, verschnürten Packen ans Licht. Fast feierlich legte er ihn vor mir auf das Pult und löste die mehrfach versiegelten Schnüre.
»Dies umgehend und aufmerksam zu lesen, ... bef... bittet Euch die ehrwürdige Meisterin Marie de Saint-Clair«, sprach mein Kustos mit aufmunterndem Lächeln.
Ich war mir im Unklaren, ob ich es erwidern sollte, doch überwog meine Neugier das grundsätzliche Misstrauen, das bei allem hochkam, das mit der Grande Maitresse in Verbindung stand, ich nickte ihm mein Einverständnis und trat zum Pult. Der freundliche Greis zog sich unhörbar zurück, ich bemerkte es erst, als sich knirschend der Schlüssel von außen im Schloss der Bohlentür drehte, doch da hatte ich schon das Deckblatt beiseite geschoben und erkannte sofort das sigillum der geheimen Bruderschaft, das über den ersten Zeilen prangte: Sine dubio! Vor mir lag - in Abschrift oder gar im Original - der Große Plan! Ob ich nun wollte oder nicht, ich geriet in den magischen Sog des ketzerischen Manifests:
Vielfältig verschlungen ist das Siegel des geheimen Bundes, die Speerspitze des Glaubens stößt aus dem Kelch?
der Lilie, das Trigon durchdringt den Kreis und schwebt über den Wassern. Wem es bestimmt ist zu wissen, der weiß, wer zu ihm spricht!
Wer die Wahrheit sucht, tut gut daran, sich in Gottes Wort zu vertiefen, wie es in der Bibel geschrieben steht. Er tut nicht gut daran, den Kirchenvätern zu vertrauen. Sie waren keine Suchenden wie er, sondern Deuter der Schrift, die sie nach Gutdünken auslegten zu ihrem eigenen Nutz und frommen.
Wer die Wahrheit sucht, kann aber auch Gott bitten, ihm Einblick in das große Buch der Geschichte zu gewähren.
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Ich war unruhig, eigentlich musste ich pinkeln, aber mehr noch war ich von einer Unruhe erfasst, ich vermeinte Schritte auf der Treppe vor meiner Tür gehört zu haben, ein seltsames, tastendes Kratzen im Schloss. Ich hielt den Atem an und lauschte. Nichts! Es war wohl nur der Wind, der durch den Flur der Burg strich? Etwas raschelte tief im Innern des geöffneten Schranks, dessen eisen-290
ummanteltes Geheimfach sicher weit in das Hohlwerk der Mauern reichte. Mäuse wahrscheinlich - oder Vögel wisperten im Schlaf. Ich schalt mich einen Hasenfuß und las weiter -
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Ein leichtes Knacken in der Tür schreckte mich aus meinen Überlegungen auf, zu denen mich das Gelesene unweigerlich verleitete, auch wenn es mir ungeheuerlich stimmig erschien. Der weißhaarige Kustos betrat meine Zelle. Er trug eine Karaffe aus
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