Der Keller
einem nichts ausmacht, sich den Rest seiner Zeit zusammen mit einem Ungeheuer im Wald zu verstecken.
Sofort fühlte sie sich schuldig.
Er ist mein Sohn, sagte sie sich. Mein Leben.
Er ist ein Ungeheuer.
Aber er ist mein Ungeheuer und ich liebe ihn. Außerdem - was habe ich denn für eine andere Wahl?
Sie kannte ihre Alternativen.
Sie hatte sie oft genug während der einsamen Fahrten in die Stadt in Gedanken durchgespielt.
Eigentlich hatte sie nur zwei Möglichkeiten: Entweder sie versteckte sich weiterhin mit Eric, oder sie ließ ihn zurück.
Im Prinzip ist er nicht mehr auf mich angewiesen, dachte sie. Er würde auch allein klarkommen.
Vor Jahren schon hatte Eric angefangen, wilde Tiere zu jagen und zu erlegen (manchmal waren auch Menschen darunter), um seinen Hunger zu stillen. Er fraß sie auf der Stelle und brachte Sandy meistens einige Fleischbrocken als Geschenk mit. Natürlich schmeckten ihm auch Pizza, Popcorn, Kuchen und Schokoladenkekse - aber angewiesen war er darauf nicht.
Er brauchte Sandy eigentlich überhaupt nicht.
Natürlich würde er mich vermissen. Ich bin ja seine Mutter. Aber er würde auch ohne mich überleben.
Und ich wäre frei. Frei, mein eigenes Leben führen zu können.
Ohne ihn.
Sofort fühlte sie sich schuldig - und ein überwältigendes Gefühl der Einsamkeit überkam sie.
Niemals, dachte sie. Ich könnte ihn niemals auf diese Weise hintergehen. Ich würde ihn so schrecklich vermissen. Niemals.
Die Alternative war jedoch genauso schlimm: Sie würde den Rest ihres Lebens in dieser kleinen Hütte verbringen. Einsam und allein - bis auf Eric. Kein Partner, keine richtigen Kinder.
Richtige Kinder?
Wieder wurde sie von Schuldgefühlen übermannt.
So war es nicht gemeint, sagte sie sich. Eric ist ein richtiges Kind, Punkt! Aber, verflucht noch mal, ist es denn so falsch, sich ein normales Leben zu wünschen? Einen Mann und menschliche Kinder?
Nicht, dass ich Eric nicht lieben würde, aber…
»Scheiße«, sagte sie laut.
Sie hasste es, über diese Dinge nachzudenken.
Genau in diesem Moment fing ihr Lieblingslied an: »Roland The Headless Thompson Gunner«, eine eigenwillige, unheimliche Ballade.
Sie sang mit und versuchte, nicht an Eric und Freiheit und solche Dinge zu denken.
Als sie über eine Brücke in die Stadt fuhr, war es bereits nach zehn. Von einem öffentlichen Telefon im Sea Breeze Café rief sie eine Nummer an, die sie auswendig kannte.
»Ja bitte?«, fragte eine vertraute Stimme nach dem zweiten Klingeln.
»Hi, Blaze. Ich bins.«
»Schätzchen!«
»Hast du heute Verwendung für mich?«
»Aber natürlich! Unbedingt!«
»Ich dachte, ich rufe vorher mal an. Nicht, dass du gerade auf einer Kreuzfahrt bist oder so.«
»Ach, erinnere mich nicht daran! Ich werde nie wieder auf ein Schiff steigen. Ich dachte, mein letztes Stündlein hätte geschlagen. Ha!«
»Tja. Soll ich zu dir rüberfahren oder treffen wir uns irgendwo?«
»Komm erst mal zu mir rüber. Dann können wir ja immer noch überlegen, ob wir einen Ausflug machen.«
»Okay. Super. Bis gleich dann.«
»Von wo aus rufst du an?«
»Aus dem Sea Breeze.«
»Aha. Dann solltest du in etwa einer Viertelstunde hier sein.«
»Bis dann, Blaze«, sagte sie und legte auf.
Sie fuhr über die Hauptstraße von Fort Platt. Die Stadt besaß zwar einen ziemlich großen Hafen und eine Werft, ihres Wissens jedoch keine militärischen Anlagen. Vielleicht hätten man sie lieber Port Platt nennen sollen.
Der Ort erinnerte sie immer an Malcasa Point, obwohl die beiden Städte eigentlich nicht viel gemeinsam hatten. Fort Platt konnte sich jedenfalls nicht mit so ausgefallenen Sehenswürdigkeiten wie einem Horrorhaus brüsten. Auch die Angelgeschäfte, Schnapsläden und billigen Souvenirshops waren deutlich spärlicher gesät. Fort Platt war eine Stadt mit Klasse. Zumindest hielten sie ihre Bewohner dafür.
Wie so viele andere Gemeinden entlang der kalifornischen Küste hatte auch Fort Platt vor langer Zeit den Ruf erworben, eine »Künstlerkolonie« zu sein. Doch als Sandy die Stadt in den späten
80ern das erste Mal besucht hatte, hatte sie sich bereits in ein angesagtes Urlaubsziel verwandelt.
Die Hauptstraße war gesäumt von malerischen Restaurants, Boutiquen, in denen Kerzen, Tee und Kunsthandwerk verkauft wurde, und Buchläden, die nach Räucherstäbchen dufteten und Schriften von Umweltschützern und obskuren Poeten anboten. Nicht zu vergessen die vielen Galerien mit den Werken ortsansässiger
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