Der Kinderdieb
Sekeu.
Peter antwortete nicht. Er zog die Beine an die Brust, schlang die Arme um die Knie und legte das Kinn darauf.
Ein ewiger Widerspruch
, dachte Tanngnost.
In einem Moment ist er ein kaltblütiger Mörder und dann wieder ein gefühlvoller kleiner Junge, ein ewiger Optimist, obwohl sein ganzes Leben eine einzige Tragödie war. Aber das ist natürlich sein besonderer Zauber. Das ist es, was die Kinder zu ihm hinzieht, was dafür sorgt, dass sie ihn trotz all dieser Widersprüche lieben.
»Nick hat die Albträume«, sagte Sekeu. »Ich höre ihn nachts. Morgens kann man die Finsternis in seinem Blick erkennen.«
Peter zog die Brauen zusammen.
»Du hast ihn heute Abend gesehen«, sagte sie. »Er kann seine Wut kaum noch im Zaum halten. Du weißt genau, dass das die letzte Warnung ist, bevor sie sich endgültig verwandeln.«
Peter blickte auf. »Weil er nach einem Pixie geschlagen hat? Wer hat das noch nicht? Diese kleinen Quälgeister machen einen fertig, wenn man sich nicht wehrt.«
»Nein, Peter«, sagte Tanngnost. »Er hat nicht einfach nur nach dem Pixie geschlagen. Ich habe ihn genau beobachtet. Es war die Finsternis in ihm. Er wollte den Pixie töten.«
»Letzte Nacht habe ich einen toten Pixie gefunden«, sagte Sekeu. »Jemand hat ihn zertreten.«
Peter sah sie an. »Wie? Nein.«
»Doch.«
»Er wird sicher damit fertig«, sagte Peter. »Wir hatten schon andere, die das Gleiche durchgemacht haben. Ältere Jungen, die gerade in die Pubertät gekommen waren und deren Körper gegen die Magie angekämpft haben.«
»Ja«, sagte Sekeu. »Aber bei denen ist es nie so weit gegangen. Sie haben vielleicht ein oder zwei Nächte lang Albträume und Bauchschmerzen gehabt, mehr nicht.«
Tanngnost holte tief Luft. »Wir können nicht riskieren, dass noch einmal so etwas wie mit Roger passiert.« Jetzt war es heraus. »Nicht jetzt. Nicht, wenn alles auf dem Spiel steht.«
Sekeu sah Peter eindringlich an. Er starrte in den Nachthimmel.
Tanngnost wusste, dass es grausam war, Roger ins Spiel zu bringen. Er wollte Peter nicht wehtun, doch er musste zu ihm durchdringen, und manchmal gab es eben keinen anderen Weg. Roger war zu alt gewesen. Wie bei Nick hatte es mit Bauchschmerzen angefangen. Dann waren die Albträume gekommen und danach die Gewaltausbrüche. Von einer Sekunde auf die andere hatte er jede Kontrolle über sich verloren. Danach hatte er genauso verwirrt ausgesehen wie Nick, hatte versucht, den Grund für seine Ausbrüche zu begreifen. Es war schrecklich mit anzusehen gewesen. Draußen beim Beerensammeln hatte Roger sich dann verwandelt. Sekeus Bericht zufolge hatte er eben noch Beeren gepflückt, um im nächsten Moment einen anderen Neuen anzugreifen. Er hatte Sam immer wieder das Messer ins Gesicht, in den Hals und in den Bauch gestoßen. Schließlich hatte Sekeu Roger getötet, und danach hatte sie Sam von seinem Leid erlösen müssen.
»Peter, ich lasse nicht zu, dass das noch einmal geschieht«, sagte Sekeu, und die Kälte in ihrem Tonfall ließ Tanngnost schaudern. »Wenn es weitere Anzeichen gibt,
werde
ich ihn töten.«
»Nein. Ich habe ihn durch den Nebel zu uns geholt. Wenn er sich wirklich verwandelt, dann werde
ich
derjenige sein, der ihn tötet.«
»Was, wenn du nicht da bist?«, fragte Sekeu.
Peter musterte Sekeu kalt. »Wenn es noch einmal passiert … töte ihn«, sagte Peter verbittert. »Mach es kurz, aber töte ihn. Sag es Blutrippe und sonst niemandem.«
Sekeu nickte. Sie wirkte erleichtert.
Peter schlug mit der Faust auf das Geländer. »Wir dürfen ihn nicht verlieren. Wir brauchen ihn. Wenn wir die Fleischfresser besiegen wollen, brauchen wir sie alle.«
Eine unbehagliche Stille senkte sich über sie. Tanngnost zog erneut an seiner Pfeife. »Dann ist es also beschlossen?«, fragte er. »Die Sache mit den Fleischfressern?«
Peter nickte. »Haben wir eine andere Wahl? Es gibt fast keine Nahrung mehr. Entweder wir versuchen, die Fleischfresser zurückzutreiben, oder wir kämpfen mit Grünzahn und Ulfger um das bisschen, was es in ihren Wäldern noch gibt.«
»Du hast von einem Plan gesprochen – von einem
fiesen
Plan, meine ich mich zu erinnern?«
Peter runzelte die Stirn. »Ach, das.« Er räusperte sich. »Daran arbeite ich noch.« Er erhob sich und fing an, auf und ab zu gehen. »Sie einen nach dem anderen zu erledigen steht nicht mehr zur Debatte. So treiben wir sie nie zurück. Sie sind einfach zu viele und wir zu wenige, außerdem haben wir zu wenig Zeit. Wir brauchen
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