Der Kinderdieb
seines Vaters zurück. Damals war er zehn gewesen. In jener Woche brachten ein paar Unteroffiziersfrauen täglich etwas zum Abendessen vorbei. Manchmal hatten sie auch ihre Kinder dabei. Jede einzelne sprach ihr Beileid aus, wünschte Nicks Mutter nur das Beste für die kommenden Monate und rang ihr das Versprechen ab, dass sie anrufen werde, wenn sie etwas brauchte, egal was. Allerdings konnten sie nie besonders lange bleiben, weil sie Kinder zum Fußball oder zum Schwimmen fahren oder einkaufen mussten. So brachten sie ihre Styroportabletts vorbei, gingen anschließend zurück nach Hause, wo ihr Leben und ihre
Ehemänner
auf sie warteten, und ließen Nick und seine Mutter allein in einem Zimmer voller welkender Blumen und kitschiger Kondolenzkarten zurück.
Erst da wurde ihm wirklich klar, dass sein Vater nicht wieder nach Hause kommen würde. Dass er nie wieder durch jene Tür treten und sich über seinen Tag beschweren würde, während er sich die Stiefel auszog. Dass er sich nie wieder ein Bier aus dem Kühlschrank holen, seiner Frau auf den Hintern schlagen und fragen würde, was zum Henker es zum Abendessen gebe. Dass er Nick nie wieder in die Seite stoßen und ihn fragen würde, ob er sich heute in der Schule mit einem Mädchen gehauen hätte. Von jetzt an würde er mit Ma allein sein.
In den ersten Nächten hatte seine Mutter ihn im Arm gehalten und ihn sanft gewiegt, während er sich in den Schlaf weinte. Doch jetzt, als er in dieser düsteren Halle aus Stein und Wurzeln saß, fragte er sich plötzlich, wer sie festgehalten hatte,wer
sie
gewiegt und
ihr
die Tränen weggewischt hatte, wer
ihr
gesagt hatte, dass alles gut werden würde? Wie war es für
sie
gewesen, sich plötzlich einem Leben als alleinerziehende Mutter gegenüberzusehen? Mit niemandem, den sie um Hilfe bitten konnte, außer ihrer kranken Mutter in Brooklyn?
Und dann waren da auch noch einige andere Dinge, Dinge, mit denen trauernde Witwen sich eigentlich nicht herumschlagen müssen sollten. Weil sie nicht länger auf der Militärbasis wohnen konnten, musste Ma eine neue Wohnung finden. Dazu kam, dass die Umstände des Unfalls, bei dem Nicks Vater ums Leben gekommen war, untersucht wurden und dass das Militär behauptete, er habe fahrlässig gehandelt. Nick verstand die Einzelheiten nicht, aber es hatte irgendetwas mit ihrer Abfindung zu tun und führte dazu, dass seine Mutter plötzlich verzweifelt nach einer Stelle suchte.
Und was habe ich getan, um ihr zu helfen?
, fragte sich Nick.
Was habe ich getan, um es ihr einfacher zu machen? Ich habe mich mit ihr gestritten, habe mich beschwert und mich ihr in praktisch allem widersetzt. Und das Schlimmste ist, dass ich sie für alles verantwortlich gemacht habe
. Er hatte noch in den Ohren, wie er sich mit weinerlicher Stimme über seine Schule, sein Zimmer und seine Schuhe beschwerte, seine blöden
Schuhe
. Himmel, wie sehr er diese Stimme in seinem Kopf verabscheute.
Was war bloß mit ihm los gewesen? Hatte er allen Ernstes geglaubt, dass es niemandem außer ihm schlecht ging? Dass er der Einzige war, der litt? War er wirklich so blind gewesen? Nick rieb sich die Stirn. Irgendwie war alles zu einem einzigen Knoten geworden, einem dichten Gewirr. Der Verlust, der Schmerz, die Wut, all das. Jetzt kam ihm alles so klar vor. So verdammt schmerzhaft klar.
»Ich komme zurück, Ma«, flüsterte er. »Ich mach’s wieder gut. Versprochen. Halt einfach durch. Bitte halt durch.«
Nick vergrub das Gesicht in den Händen und gab sich Mühe,die Anspannung, den Kummer und die Reue fortzuwischen. Er hörte ein Knarren und blickte auf. Peter, Sekeu und der Troll kamen die Treppe vom Ausguck herunter. Alle drei starrten ihn an. Nick hatte das Gefühl, als ob er ein Verdächtiger wäre, vielleicht sogar ein Angeklagter.
Ein Lächeln erhellte Peters Gesicht. »He, Nick. Alles klar bei dir?«
Nick erhob sich. »Peter, wir müssen reden.«
Peter kam zu ihm herüber und legte ihm eine Hand auf den Rücken. »Das werden wir auch, ganz sicher. Aber nicht jetzt. Es gibt zu viel zu erledigen.« Ein böses Funkeln trat in Peters goldene Augen. »Es gilt, Blut zu vergießen und Kehlen aufzuschlitzen.« Er warf den Kopf in den Nacken und krähte wie ein Hahn, krähte, bis die ganze Halle auf den Beinen war.
Vor dem Klo bildete sich eine Schlange. Feuer wurden entzündet, Fackeln angesteckt, jemand setzte Grütze auf. Mit spürbarer Erregung machten die Teufel sich daran, alles in Gang zu bringen. Nick erhielt
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