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Der Kinderdieb

Titel: Der Kinderdieb Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brom
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hatten sie ihre edelsten Gewänder angelegt und marschierten unter dem Banner der Dame, und jeder Einzelne trug eine Fruchtgabe, die aus dem Garten der Dame stammte. Aus den Wäldern sahen wir zu, wie die Gesandtschaft ihres Weges ging. Einige Frauen wuschen sich am Fluss, und als sie den sich nähernden Trupp sahen, fingen sie an zu schreien und zu rufen und flohen in ihr Lager zurück. Die Gesandtschaft verharrte. Offenbar war man sich nicht sicher, was zu tun war. Nach und nach versammelten sich Dutzende von Männern am Rande des Lagers und brüllten und krakeelten in Richtung der Gesandtschaft. Das ging einige Minuten lang so, und mit einem Mal erklang mehrmals hintereinander ein ohrenbetäubender Knall, und weiße Rauchwolken stiegen aus dem Lager auf. Damals wusste ich es nicht, aber es handelte sich um Musketenfeuer. Mehrere Angehörige der Gesandtschaft brachen zusammen und standen nicht wieder auf, die übrigen rannten in den Wald zurück. Hiisi stürzte, die Hände an die Brust gedrückt, zu Boden. Tanngrisnir hob Hiisihoch und wollte ihn forttragen. Doch die Männer aus dem Lager folgten ihnen mit Schwertern und Piken. Die Delegation war unbewaffnet, da sie zum Verhandeln gekommen war. Diejenigen, die nicht schnell genug waren, wurden vor unseren Augen eingeholt und abgeschlachtet. Ich habe zugesehen, wie sie immer und immer wieder auf meinen eigenen Bruder einstachen. Die Menschlinge haben sie direkt vor unseren Augen getötet. Wir flohen in die Hügel und bangten um unser Leben.«
    Tanngnost räusperte sich und fuhr mit belegter Stimme fort.
    »Die Dame entließ einmal mehr den Nebel in die Welt, um unsere Küsten zu schützen und Avalon zu verbergen, damit nicht noch mehr Schiffe kämen. Der Nebel blubberte aus den Seen hervor und wälzte sich aus den Wäldern und Hügeln wie Drachenatem. Bei Anbruch der Nacht umgab er die ganze Insel und verdeckte den Himmel. Seither habe ich weder die Sonne noch den Mond gesehen.«
    Tanngnost verstummte, offenbar unfähig weiterzusprechen.
    Peter sprang auf und begann, auf und ab zu gehen. »Das war nur der Anfang der dunklen Zeiten, die kommen sollten«, sagte er und legte den Kopf schief, als lauschte er fernen Geräuschen. »Wenn ich an jene Zeit zurückdenke, sind es die Trommeln, die ich höre.« Peter schlug sich auf die Brust. »Ich höre sie noch heute in meinem Herzen. Denn die Dame hat den großen Gehörnten aus dem Wald gerufen, damit er die Menschen vernichtete, sie von unseren Küsten vertrieb und in den Nebel jagte. Er kam aus dem finstersten Wald, und seine Augen flammten unter dem gehörnten Helm. Er schlug seine Kriegstrommel und rief alle Angehörigen der Feenvölker zu den Waffen. Er befahl ihnen, sich zu erinnern, wie man seine Hörner, Zähne und Klauen benutzt, sich zu erinnern, wie man schrecklich war, sich zu erinnern, wie es ist, die Erde mit dem Blut der Menschlinge zu verdunkeln. Und höret dies!« Peter strecktedie Brust heraus, und sein Gesicht strahlte vor Stolz. »Der Gehörnte kam hierher … zum
Teufelsbaum!
Der Herr von Avalon kam zu
uns!
Er rief uns zu den Schwertern! Er bot uns einen Platz bei den Feen an, wenn wir ihm die Treue hielten. Und wisst ihr, warum?«
    Peter ließ den Blick über die Gesichter der Versammelten schweifen.
    »Weil die Teufel wussten, was es bedeutet, sich einen Platz in dieser gnadenlosen Welt zu erkämpfen. Weil niemand sonst härter gekämpft hatte, um den Übeln der Menschheit zu entkommen, und weil niemand sonst begieriger war, unser Land von ihrem Gestank zu befreien. Der Gehörnte wusste das ganz genau. Er selbst tanzte in jener Nacht mit uns um das Feuer, und wir wetzten unsere Messer und Zähne. In unseren Herzen war ein Feuer entfacht. Die ganze Insel war unter dem Banner des Gehörnten geeint. Holde und Unholde holten ihre alten Waffen hervor, entstaubten ihre Schilde und Rüstungen und schärften ihre Schwerter und Speere. Wir malten uns die Gesichter an, und die ganze Nacht lang schlugen wir unsere Trommeln, heulten und brüllten. Wir hofften, erneut die Furcht vor den Alten in die Herzen der Menschen einzupflanzen und sie so in den Nebel zu treiben. Die Krieger Avalons versammelten sich am Waldrand und warteten bis zur Morgendämmerung. Doch die Eindringlinge verließen unser Land nicht. Stattdessen hoben sie Gräben aus und verbargen sich darin. Als der erste Schimmer der Morgenröte den nebligen Himmel erhellte, trat der große Gehörnte aus dem Wald und stand wie eine mächtige Eiche vor uns.

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