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Der Kinderdieb

Titel: Der Kinderdieb Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brom
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ihre Palisade spießen.«
    Tanngnost schwieg einen Moment lang. »Ja. Ja, natürlich.«
    Peter schickte sich an zu gehen.
    »Peter.«
    »Was noch?«, fragte er seufzend.
    »Was ist mit Nick?«
    »Tanngnost, seit wann bist du eigentlich so ein altes Weib?«
    Der Troll bedachte ihn mit einem verdrießlichen Blick. »Du hast ihn gesehen«, sagte er zu seiner Rechtfertigung. »Die Finsternis hatte ihn
ganz und gar
in ihren Fängen.«
    »Die Dame hat ihn berührt. Sie hat ihn geheilt. Man erkennt es an seinen Augen. Mach dir nicht so viele Sorgen. Alles wird sich ineinander fügen. Avallach lächelt auf uns herab.« Der Troll wirkte nicht besonders beruhigt. »Na schön, behalt ihn im Auge, wenn du dich dann besser fühlst.«
    »Peter?«
    »Was?«, fragte Peter entnervt.
    »Du bist derjenige, der sie alle zusammengebracht hat. Das war deine Leistung. Wenn ich nicht wüsste, dass du ein Schwachkopf bist, würde ich glauben, dass in dir der Geist des Gehörnten fortlebt.«
    Peter lächelte seinen alten Freund warm an. »Ist das eine Träne? Tatsächlich. Na, so was, Tanngnost, du bist
wirklich
zu einem alten Weib geworden.« Er lachte, und als er das tat, grinsten alle Teufel, weil Peters Lachen einfach unglaublich ansteckend war.
     
    »Wie weit ist es noch?«, fragte Danny zum dritten Mal innerhalb von zehn Minuten. Niemand antwortete. »Warum muss ich die Äpfel tragen?«, stöhnte er. »Die wiegen verdammt noch mal Tonnen. Grille hat bloß Pilze. Warum kriegt sie die Pilze? Pilze wiegen so gut wie nichts. Das ist ungerecht. He, Grille,wie wär’s, wenn wir eine Weile lang tauschen, hä? Wie wär das?«
    Grille schüttelte den Kopf.
    »Ach, komm schon. Komm schon. Jetzt komm schon.«
    »Verdammte Axt, Danny«, sagte Grille. »Gibt’s eigentlich immer was, was dir Bauchschmerzen macht? Hier, nimm schon die gottverdammten Pilze.« Sie riss ihm den Apfelsack vom Rücken und drückte ihm die Pilze vor den Bauch. »Hör wenigstens für die nächsten fünf Minuten mit dem elenden Gejammer auf. In Ordnung? Alles klar?«
    Danny nickte kleinlaut.
    Grille stapfte über den Pfad davon.
    »He, Grille?«, rief Danny.
    Das Mädchen antwortete nicht.
    »Du bist echt ein Schatz.«
    Sie zeigte ihm den Finger.
    Danny sah zu Nick hinüber, warf den Pilzbeutel von einer Hand in die andere, hob die Brauen und grinste.
    Nick erkannte den Weg wieder. Der Teufelsbaum war nicht mehr weit. Er würde froh sein, wenn sie es geschafft hatten. Der Sack mit Obst und Nüssen, den er trug, war alles andere als leicht, außerdem verblasste das Tageslicht langsam, und die Schatten wurden länger. Nick war nicht besonders erpicht darauf, nachts draußen rumzulaufen.
    Hier gab es noch keine Anzeichen von neuen Knospen, nichts als endloses Grau. Trotzdem spürte er eine Art Strömung hinter diesem Grau.
Das ist der Zauber
, begriff er – die Dame hatte ihm die Augen für den Zauber geöffnet. Die umliegenden Hügel kamen ihm vor wie ein Winterwald kurz vorm Frühling.
    Die dunklen Gefühle und das Brennen im Bauch waren verschwunden. Er war spürbar erschöpft von dem langen Tag, der hinter ihm lag, doch geistig fühlte er sich lebendig, als wäresein Körper endlich im Einklang mit dem Zauber von Avalon. Seine Gedanken kehrten immer wieder zu der Welt hinter den Wasserfällen zurück, zu den Blumen, den Zaubertieren, den süßen Düften, den Hunderten winziger Feenwesen …
zu der Dame
.
    »Die Dame«,
flüsterte er. Sie beanspruchte sein ganzes Denken – mit ihren himmelblauen Augen, ihrem seidigen Haar, ihrer blassen Haut, so weiß, dass sie beinahe blau wirkte. Sobald ihr Bild vor Nicks inneres Auge trat, empfand er ein Gefühl der Ruhe und des Friedens. Er spürte ihre … was war es? Liebe? Ja, begriff er, die Liebe einer Mutter.
    Unvermittelt blieb Nick stehen. Er verspürte einen Stich der Schuld in der Brust.
»Ma.«
Entsetzt begriff er, dass er seine
eigene
Mutter vergessen hatte. Sie war ihm nicht nur einen Moment lang entfallen, er hatte sie wirklich komplett vergessen. Sie kam ihm wie eine entfernte Erinnerung vor, jemand, den er vor Ewigkeiten einmal gekannt hatte. Es war, als hätte die Dame …
was?
Seine Mutter aus seinem Kopf verdrängt? Irgendwie ihren Platz eingenommen? Er konzentrierte sich auf das Gesicht seiner Mutter, und langsam klärten sich seine Gedanken.
    Mit einem Mal erinnerte er sich wieder an die Worte der Dame, nun schnörkellos und in all ihrer Nacktheit:
Ich bin dein Leben. Ich bin dein Tod. Ich bin für immer alles

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