Der Kinderdieb
Träumen gefangen war. Der Geist des Jungen schwirrte förmlich von Bildern, und wie sehr Ulfger sich auch anstrengte, er konnte nicht zu ihm durchdringen. Zunehmend ungeduldig probierte er es weiter und tastete umher, bis er noch etwas fand, etwas Hochinteressantes: einen Jungen, der ganz allein in einem kleinen Raum lag. Er schlief nicht, ganz und gar nicht. Der Geist dieses Jungen stand offen –
weit offen
. Ulfger spürte die brennende Wut, die von diesem Jungen ausging. Er war voller Zorn und Hass, sowohl auf sich selbst als auch auf
sie
. Dieser Junge war fast wahnsinnig vor Wut. Und Ulfger erkannte, dass dieser Wahnsinn ihm Tür und Tor öffnete und den Jungen ungemein verletzlich machte.
Ulfger sandte einen Gedanken aus und zwängte ihn dem Jungen in den Kopf.
Öffne die Tür
. Der Junge reagierte nicht.
Öffne die Tür
. Nichts.
Öffne die Tür
.
Frustriert zog Ulfger die Brauen zusammen. Dann verstand er auf einmal, wie die große Gabe beschaffen war, die Avallach ihm verliehen hatte. Er konnte nicht die Gedanken anderer kontrollieren, konnte sie nicht dazu bringen, Dinge zu tun, die sie nicht tun wollten. Er konnte ihnen lediglich einen Stoß versetzen und die Vorgänge verstärken, die ohnehin schon in ihnen angelegt waren, ihre Angst, ihren Hass oder ihre Eifersucht. Er tastete sich erneut in den Geist des Jungen vor und entdeckte etwas Gutes, etwas, von dem er wusste, dass er es benutzen konnte.
Mord
, dachte er und drängte den Gedanken in den Kopf des Jungen, und zu seiner Überraschung, zu seinem Entzücken genügte schon dieser kleine Anstoß, dieser unmerkliche Hauch, um mörderisches Trachten erblühen zu lassen.
Nick träumte, und dieses eine Mal war es ein friedvoller Traum. Er spielte im Garten der Dame und jagte wilden Feen nach, während die Dame auf einem Thron saß und zusah. Eine warme Brise wehte über einen Teich, und es roch nach Geißblatt und Quellwasser. Die Feen kicherten und flogen in einen Baum. Nick setzte ihnen hinterher und hockte sich neben sie auf den Ast. In diesem Moment wurde ihm klar, dass ihm Flügel gewachsen waren, dass er nicht größer als ein Vogel war und dass er – was ihm noch seltsamer erschien – nicht das Geringste dagegen einzuwenden hatte. Was konnte schöner sein, als eine Fee im Garten der Dame zu sein? Die Dame lächelte ihn an, als wäre er eines ihrer Kinder. Nick war glücklich und zufrieden und wünschte sich nichts anderes.
Da hörte Nick, wie jemand seinen Namen rief. Er kannte die Stimme, konnte sie jedoch erst nicht zuordnen, weil sie von so weit weg kam. Es war diese andere Frau, begriff er, diejenige, die er zurückgelassen hatte. Nick spürte ein Kribbeln im Hinterkopf. Es gab da etwas, das er für sie tun musste, aber gerade hatte er wirklich keine Lust, an sie zu denken. Er war viel zu sehr mit Spielen beschäftigt.
Ein Schatten fiel über die Wiese. Eine runde Holztür stand mitten im Garten. Nick hörte etwas an der anderen Seite kratzen. Etwas wollte rein, und zwar dringend. Nick sah zu der Dame hinüber. Sie wirkte verängstigt. Da schallte ein schriller Schrei durch den Garten, von etwas, das große Schmerzen litt. Der Schrei hallte in Nicks Schädel wider, lauter und lauter …
Nick erwachte. Zum ersten Mal seit seiner Ankunft hier war er nicht schweißüberströmt und verspürte kein Brennen im Bauch. Trotzdem fühlte er sich unbehaglich. Er betrachtete die runde Tür. Er konnte das Gefühl nicht abschütteln, dass etwas Finsteres auf der anderen Seite lauerte und nur darauf wartete, dass man es hineinließ.
Nichts deutete darauf hin, dass Peter und die Teufel schon zurück waren. Nick fragte sich, wie spät es war. Grille und Danny schliefen in ihren Käfigen – offenbar forderte der lange Tag seinen Tribut. Sie hatten Sekeus Käfig näher an den Kamin geschoben. Nick sah, dass sie sich im Schlaf hin und her wälzte. Ihr Gesicht wirkte verstört, als träumte sie schlecht. Nick schaute zu Leroys Käfig – der leer war.
Er hörte ein leises Geräusch, eine Art Fiepen. Dann ertönte es noch einmal, ein gequältes Lachen oder vielleicht ein Weinen. Es war schwer zu sagen. Und noch mal, doch diesmal erkannte Nick es als den Schrei von etwas, das Schmerzen litt. Das Geräusch kam vom Klo.
Was zum Teufel ist das?
, dachte er und krabbelte aus seinem Käfig. Jetzt, da all die Teufel fort waren, war es irgendwie unheimlich hier. Als Nick lauschte, konnte er das Schnarchen des Trolls oben im Ausguck hören und dann
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