Der Kinderdieb
und fühlte sich fast ein wenig betrogen. Eigentlich hatte er mehr von diesem teuflischen Geschöpf erwartet.
Er trat neben Peter. »Sag mir eines, mein Junge«, begann er mit tiefer, rauer Stimme. »Hast du aufgegeben? Ist es das? Bist du das Spiel einfach leid? Sag es mir, mein Sohn, damit ich endlich nicht mehr darüber nachdenken muss.«
Der Rotschopf begegnete seinem Blick und hielt ihm stand. Selbst geschlagen und in Fesseln brachte dieses Geschöpf noch ein höhnisches Grinsen zustande.
Der Kapitän schüttelte den Kopf. »Tja, nun ist es vorbei, zumindest für dich.«
Einer der Jungen stolperte. Er hatte zerzaustes Haar, in das ein roter Knochen geknotet war, eine lange Narbe quer über dem Auge und eine hässliche Wunde in der Seite. Das Seil würgte ihn, als er sich mühte, wieder auf die Beine zu kommen. Der Kapitän wusste, dass er jedes Recht hatte, sie allesamt zu hassen, doch es fiel ihm schwer, etwas anderes als Mitleid für sie zu empfinden. Unter ihren Narben, ihrer Kriegsbemalung und ihren wilden Mienen waren sie nichts als Kinder, oder zumindest waren sie einmal welche gewesen. Er wusste das eine oder andere über Peter, der die armen Jungen aus der Außenwelt gestohlen und verhext hatte, damit sie ihm folgten, der wilde Bestien aus ihnen gemacht hatte. Doch egal wie wild sie aussahen,sobald der Prediger sie sich vornahm, schrien sie alle nach ihren Müttern.
Drei der Kinder wirkten wie Frischlinge. Sie hatten keine Narben und keine Tätowierungen oder andere scheußliche Zeichen auf der Haut. Der Kapitän gestattete sich zumindest die vage Hoffnung, dass die drei vielleicht eine Chance hatten. Womöglich konnte er sie für sich gewinnen und sie dazu bringen, mit ihm zu reden, ihm zu helfen.
Er hatte schon mehrfach Kinder gerettet, doch sie waren allesamt einen grausamen Tod gestorben und hatten ihre Geheimnisse mit ins Grab genommen, alle bis auf Billy. Genau wie diese Jungen hier war auch Billy ein Frischling gewesen. Ein wenig Güte und die Angst vor dem Prediger hatten genügt, damit er es sich anders überlegt hatte. Durch Billy hatte der Kapitän von Peter erfahren, ebenso von der Dame und der Legende von ihrem teuren Apfelbaum. Doch Billy hatte nicht gewusst, wo sich das Versteck der Dame und ihr Baum befanden.
Der Gedanke an Billy war schmerzvoll für den Kapitän – der Ärmste war ein guter Junge gewesen. Doch dann war die Verwandlung über Billy gekommen und hatte ihn in den Wahnsinn getrieben. Der Kapitän hatte den Jungen eigenhändig niederstrecken müssen, und es bereitete seinem Herzen noch heute Kummer.
Der verwundete Junge war noch immer damit beschäftigt, sich aufzurichten. Der Kapitän seufzte und zog ihn auf die Beine hoch. Der Verletzte schnappte nach Luft, starrte seinen Helfer finster an und fletschte knurrend die Zähne. Der Kapitän schüttelte den Kopf und fragte sich, warum er sich überhaupt die Mühe machte, warum sie diesen hier überhaupt mitgenommen hatten. Für welche wie ihn gab es sowieso keine Hoffnung. Es wäre ein Gnadenakt gewesen, ihn an Ort und Stelle zu töten und ihm das Leid, das ihn erwartete, zu ersparen.
Eine steife Brise jagte einen Staubteufel durch ein niedergedrücktes Maisfeld. Direkt hinter dem welken Getreide erhob sich die Feste aus dem rußigen Boden. Die hohen, spitzen Stämme der Außenpalisade waren vom selben stumpfen Grau wie das Land und lehnten sich wie Halt suchend aneinander.
Auf einer altersschwachen Holzbrücke überquerte ihr Trupp mit dumpf hallenden Schritten einen kleinen Bach. Das Geräusch gurgelnden Wassers war die reinste Folter für Nick. Er wollte sich die Lippen befeuchten, doch seine Zunge war noch immer zu trocken. Zu beiden Seiten der Straße standen Kreuze aus verblichenem Holz und Knochen. Einige ragten schief aus dem Boden, andere waren umgestürzt, lagen zerbrochen und halb begraben im ausgedörrten Staub.
Gräber
, begriff Nick, Hunderte von Gräbern, die den ganzen Weg bis zur Feste säumten.
Nick hörte, wie ein Stöhnen aus Peters Kehle drang. Zuerst dachte er, der Wächter hätte ihn erneut geschlagen, doch dann blickte er auf und schnappte nach Luft. Abrahams Kopf steckte auf der Palisade. Nick wandte den Blick ab, aber er hatte bereits Abrahams tote Augen gesehen, genau wie all die anderen Schädel auf den Pfählen.
Wie viele?
, fragte er sich.
Wie viele Jungen sind für diese Insel gestorben?
Ein Ruf ertönte aus einem der Tortürme, und das Tor schwang auf. Man führte sie in die
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