Der Kinderdieb
abgestorben, als hätte er einen Schlaganfall erlitten. Sein totes Auge starrte milchig ins Leere, und der eine Mundwinkel war herabgezogen, als wäre er ständig unmutig. Er hielt einen schwarzen Stab mit einem schmucklosen Goldkreuz darauf in der Hand. »Er ist es wahrhaftig«, rief der Mann und richtete seinen Stab auf Peter. »Luzifers Sohn höchstselbst.«
Ein tiefes Ächzen entrang sich den Kehlen der Versammelten, und wie ein Mann wichen sie zurück.
Der Fremde mit dem schiefen Gesicht legte den Kopf schräg, um Peter mit seinem gesunden Auge zu mustern. »Gott hat dich hergebracht, damit du bestraft wirst. Er hat diese Aufgabe in meine Hände gelegt. Ich habe nicht vor, unseren Herrn zu enttäuschen.«
Dann trat der Mann vor Danny, vor Leroy und schließlich vor Nick. Er bemerkte den blauen Hasenfuß um Nicks Hals und riss ihn mit einem festen Ruck ab. »Satansspielzeug«, fauchte er, warf das Stück zu Boden und trat es mit dem Absatz in den Schlamm, als würde er eine Zigarette austreten. Mit harten Händen packte er Nicks Unterkiefer und zwang ihn, ihm in die Augen zu sehen. »Sag mir, mein Junge. Erinnerst du dich an den Namen deines Vaters?«
Nick war sich nicht sicher, ob er ein Wort herausbringen würde, also nickte er nur.
»Wir werden sehen«, sagte der Mann mit dem schiefen Gesicht. »Bringt ihn ins Kapitänsquartier.«
Kapitän Samuel Carver nahm den Krug in die Hand. Er hielt ihn hoch und goss sich kühles Wasser in seinen Becher. Dann betrachtete er sie ausgiebig, vier schmutzige, erbärmliche Kinder, die auf dem erdigen Hüttenboden saßen. Sie starrten den Becher an. Nichts macht einen Menschen durstiger als die Anspannung in der Schlacht, und diese Jungen hatten seit dem Morgen nichts mehr getrunken, wenn nicht länger. Er hob den Becher langsam an die Lippen und nahm einige tiefe, laute Schlucke, wobei er sich das Wasser übers Kinn laufen ließ, sodass es eine Pfütze auf dem Tisch bildete. Er trank aus, schmatzte und schenkte sich einen weiteren Becher ein. Dann schob er den Krug über den Tisch, auf die Jungen zu.
»Hat jemand von euch Lust auf was zu trinken?«, fragte er. »Frisch aus dem Brunnen. Kühl und süß. Das muss man dieser gottverlassenen Insel lassen. Das Wasser schmeckt hier wirklich gut.«
Natürlich antwortete keines der Kinder, doch ihre Augen sprachen Bände: »Ja, wir hätten gerne etwas Wasser. Aber ja doch, wir würden dankend unser linkes Bein für einen Becher geben.«
Der Kapitän wollte ihre linken Beine nicht, und – bei dem Gedanken warf er den beiden Predigern, die hinter ihm am Tisch saßen, einen Blick zu – er interessierte sich auch nicht im Geringsten dafür, ihre Seelen zu retten. Nein, Kapitän Carver wollte nur eines von ihnen wissen, und zwar mehr als alles auf der Welt, nämlich wo die Dame und ihr gottverdammter Apfelbaum sich versteckten, damit sie diese verfluchte Insel endlich verlassen konnten.
Der Kapitän erhob sich, trat gemächlich vor den Tisch und zupfte an seinem Kinnbart. Er blickte auf die Jungen hinab. Was hatte sie bloß hierher verschlagen? Es war extrem lange her, seit es ihm das letzte Mal gelungen war, eines dieser wilden Kinder einzufangen, und noch länger, seit er eines von ihnenzum Sprechen gebracht hatte. Seit Billy hatte er nichts mehr von der Außenwelt gehört. Wie viel Zeit war seitdem vergangen? Billy hatte erzählt, dass nicht nur die Kolonien sich von England gelöst und ein eigenes Land gegründet hätten, die Vereinigten Staaten, sondern dass diese sogenannten
Vereinigten
Staaten nun miteinander im Krieg lagen. Ein Krieg, bei dem es ausgerechnet um Sklaverei ging. Herrschte etwa noch immer Krieg? Der Kapitän vermutete, dass dem nicht so war, doch er wollte es genau wissen, wie so vieles andere auch. Er tröstete sich damit, dass er später noch genug Zeit für solche Fragen haben würde. Fürs Erste musste er wenigstens einen von ihnen davon überzeugen, dass es in ihrem eigenen Interesse lag, ihm zu helfen.
»Es tut mir leid, dass ihr so viel durchmachen musstet«, sagte er und meinte es sogar ehrlich. Diese Jungen, selbst der raubtierhafte mit dem zerzausten Haar und den Narben, waren alle ganz normale Kinder gewesen, bevor dieser Dämon sich ihrer bemächtigt hatte. Es war reines Pech, dass sie dem goldäugigen Satansspross über den Weg gelaufen waren. Der Kapitän nahm erneut einen Schluck aus seinem Becher und schmatzte. »Ich würde mein Wasser gerne teilen, aber ich lade nur Freunde an meine
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