Der Kinderdieb
herabschaute und ihnen den Weg leuchtete.
Herrgott, welch ein willkommener Anblick
. Aber das half ihnen wenig, wenn das Land selbst unter ihren Füßen nachgab. Die Schiffe waren schon vor Jahrhunderten dem Meer zum Opfer gefallen. Die Boote hatten sie flussaufwärts der Feste gelagert. Doch wenn die Feste dahin war, wie sollten sie dann jemals die Boote finden?
Er warf einen Blick auf die Zauberin oder den Dämon oder was immer sie auch war. Sie stand nackt und schlammverschmiert da, getrocknetes Blut hatte lange Streifen auf ihrem Gesicht und ihren Brüsten hinterlassen. Sie hatten ihr ein Seil um den Hals gebunden und sie mitgezogen, und immer wenn sie hinfiel, dann traten und schlugen die Männer sie. Allerdings schien sie die Misshandlungen überhaupt nicht zu spüren und starrte nur mit leerem Blick geradeaus. Die sinnlosen Schikanen widerten den Kapitän an. Ihr Zauber war gebrochen. Sie hätten die Dame einfach töten sollen. Doch der Prediger bestand darauf, sie zur Kirche zu bringen, um sie auf heiligem Boden zu verbrennen, vor Gottes Antlitz. Nur, dass es keinen heiligen Boden mehr gab. Was würden diese Wahnsinnigen jetzt wohl machen?
Der Nebel lichtete sich, gab die Küste frei und verzog sich zusehends. Bald würden Himmel und See völlig klar zu sehen sein. Wie viele Tage und Nächte hatte er dafür gebetet? Und nun waren seine Gebete endlich erhört worden. Was jetzt? Was hatten sie ohne Boote davon? Sie waren nach wie vor gefangen, was bewies, dass Gott nur mit ihnen spielte.
Die meisten Männer liefen im Kreis oder traten ziellos voneinem Fuß auf den anderen und starrten mit offenen Mündern zu den Sternen hoch oder auf die steigenden Fluten hinab. Die anderen knieten um den Prediger und verstärkten sein Gebet mit ihren Stimmen, während er hektisch auf und ab ging, zum Himmel aufblickte und Gott um ein Wunder anflehte.
Der Kapitän hielt Danny dicht bei sich. Er bemerkte die Angst im Gesicht des Jungen. Mit den Augen suchte der Kapitän den Horizont ab. Es gab keine Anhöhen mehr. Überall quoll Wasser empor, Ströme, Bäche und Rinnsale vereinigten sich und bedeckten in Windeseile das verbleibende Festland. Bald würden sie alle aufs Meer hinaustreiben. Ein weiteres Stück Reetdach trieb vorbei. Sie hatten zwar keine Boote, aber wenn sie ein paar von den Trümmern vertäuen konnten, würden er und Daniel es vielleicht an Land schaffen. Allerdings befürchtete er, dass der Prediger es nicht gestattete. Nein, wenn kein Wunder geschah, dann wollte der Prediger ganz sicher, dass sie alle gemeinsam untergingen.
Jetzt
, dachte der Kapitän,
solange der Geistliche abgelenkt ist, können wir uns davonstehlen
.
Keine zehn Meter entfernt erspähte der Kapitän eine Ansammlung von Felsbrocken und Büschen, hinter der sich das Wasser aufstaute. Wenn sie es ungesehen bis dorthin schafften, wären sie frei. Er nahm den Jungen bei der Hand und ging los. Sie waren keine zehn Schritte weit gekommen, als eine inbrünstige Stimme hinter ihnen erklang.
»Wo willst du hin?«
Der Kapitän wusste, dass der Prediger ihn meinte, doch er schritt einfach weiter.
»Kapitän.«
Der Angesprochene fluchte halblaut und drehte sich um.
»Wo gehst du hin?«
»Ich versuche eine höhere Stelle zu finden«, log er.
»Es gibt keine höhere Stelle.«
»Wir werden sehen.«
»Bring mir das Dämonenkind«, befahl der Prediger kalt.
Der Kapitän spürte, wie Danny sich an ihn drückte und die Hand des Jungen sich in seinem Griff anspannte.
»Dämonenkind?« Dem Kapitän wurde klar, dass er fast brüllte, und er zwang sich, die Stimme zu senken. »Daniel hat uns zu der Zauberin geführt. Er hat bewiesen, dass er frei von dämonischen Einflüssen ist.« Er legte eine Hand an den Griff seines Schwerts. Schritt für Schritt zog er sich weiter zurück.
Die Augen des Predigers blitzten. »Darüber soll Gott urteilen. Und jetzt bring mir den Jungen.«
Als der Kapitän nicht gehorchte, nickte der Geistliche Ochs zu. Der Hüne und ein Dutzend Männer schwärmten aus und umstellten den Flüchtenden.
Der Kapitän schaute auf der Suche nach einem treuen Mann von einem Gesicht zum anderen. Er wurde nicht fündig. Diese Männer hatten Angst, Angst um ihre unsterblichen Seelen. Sie würden alles tun, was der Prediger von ihnen verlangte.
Da kann man nichts machen
, dachte der Kapitän. Wenn er sein Schwert zog, wären Daniel und er innerhalb eines Sekundenbruchteils tot. Er flüsterte dem Jungen zu: »Ich verlasse dich nicht. Das
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