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Der Kinderdieb

Titel: Der Kinderdieb Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brom
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Sie wich in ihrem Stuhl zurück. »Sie riechen übler als ein Sack voll Sardinen.«
    Der Vergleich entlockte dem Kapitän ein Lächeln. »Welches Jahr, meine Dame?«
    »Sie wollen wissen, welches Jahr wir haben? Gnädiger Herr, haben Sie Ihr Leben in einem Erdloch verbracht, oder was?«
    »Gewissermaßen.«
    »Wir haben das Jahr zweitausendundfünf. Nein, warten Sie, zweitausendundsechs. Genau, zweitausendundsechs.«
    Der Kapitän blickte erschreckt auf. »Im Jahre des Herrn?«
    »Ja, aber sicher doch. Und wissen Sie, wie alt ich damit bin? Zweiundneunzig. Sieht man mir überhaupt nicht an, was? Wollen Sie wissen, warum ich noch so gut beisammen bin und so eine gute Figur habe? Ich mache täglich einen Spaziergang. Während die anderen alten Hennen auf ihren dicken Hinterteilen sitzen, bewältige ich tagtäglich meine drei Kilometer. Bei Regen und bei Sonnenschein. Ich habe schon zwei Ehemänner überlebt. Wollen Sie sonst noch was wissen?«
    Die Alte plapperte munter weiter, aber der Kapitän hörte gar nicht mehr zu.
Über dreihundert Jahre
. Jetzt musste er sich doch setzen. Wie konnten einem dreihundert Jahre einfach so durch die Finger gleiten? Er hatte oft darüber nachgedacht, ob die Zeit im Fegefeuer anders verlief, aber er hatte sich immer an dem Glauben festgehalten, dass draußen in der wirklichen Welt die Zeit stillstand. Doch der Lauf der Geschichte hatte nicht auf ihn gewartet. Seine Kinder, seine Enkel und sogar deren Enkelkinder lagen schon lange im Grab. Es gab niemanden, zu dem er zurückkehren konnte. Er hatte kein Zuhause mehr. Was blieb ihm noch?
    Jemand stieß ihn an.
    »Was plappert der da?«, fragte die Frau in dem Strickmantel.
    Der Kapitän blickte auf. Er war so in Gedanken verloren gewesen, dass er nicht sofort begriff, dass sie den Prediger meinte.
    Der Geistliche stand am Bug und hatte die Arme weit ausgebreitet, als wollte er die Stadt umarmen. Sein langer schwarzer Umhang flatterte dramatisch im Wind. Indem er den Motorenlärmmit lautem Brüllen übertönte, gab er einen endlosen Sermon über Gott von sich, der seine Kinder bei sich willkommen hieß.
    »Ich wünschte, ich wüsste es«, antwortete der Kapitän.
    »Tja, wenn Sie mich fragen, hat der Kerl einen Kuckuck im Oberstübchen.«
    Die Miene des Kapitäns verhärtete sich. »Ja«, sagte er gedankenverloren. »So wird es wohl sein.« Dabei dachte er an Danny – das Kind, das er kaum kannte –, und ihm wurde klar, dass der Junge das Einzige war, was ihm noch etwas bedeutete, und dass er sich in ebendiesem Moment in der Gewalt eines mörderischen Wahnsinnigen befand.
    Er stand auf und ging eilig zur Doppeltür, um nach dem Jungen Ausschau zu halten. Danny stand direkt vor dem Prediger. Der Kapitän versuchte, Blickkontakt mit ihm aufzunehmen, um ihm Mut zu machen, aber Danny hielt den Blick starr aufs Deck gerichtet.
    Der Kapitän schaute an dem Prediger vorbei zur Stadt. Bald würden sie anlegen. Danny lief die Zeit davon.
     
    Nick umfasste die Reling und hielt sich fest. Sie näherten sich der Fährstation schnell, zu schnell.
    Peter, die Teufel, die Elfen, die Hexe und ihre Brut waren aufs Dach der Fähre geklettert und spähten nun über die Vorderreling hinab. Unter ihnen gab es zwei weitere Decks. Die meisten Passagiere hatten sich auf dem Deck direkt unterhalb zusammengedrängt, und noch eines tiefer, also ganz unten, befanden sich der Prediger und die Fleischfresser.
    Nick blickte über die Schulter zum Steuerhaus hinüber. Mit einer Hand umklammerte der Steuermann das Rad so fest, als hinge sein Leben davon ab, während er sich mit der anderen ein Funkgerät vor den Mund hielt. Er sprach hektisch hinein, wobei er nicht ein einziges Mal den Blick von den Barghestsabwandte, die direkt vor seinem Fenster am Geländer hingen. Wenn es nach Nick gegangen wäre, hätte der Steuermann lieber auf den Kurs achten sollen – es sah nämlich ganz danach aus, als bewegten sie sich direkt auf die Dalbenpfosten zu, die im Hafenbecken aus dem Wasser ragten.
    Peter hockte vor der Reling auf der äußersten Deckkante, das Schwert in der Hand und bereit, sich jeden Moment auf den Prediger hinabzustürzen. Sein Blick war wild und ruhelos wie der eines Raubvogels.
    Die Dame und Danny waren noch immer aneinandergefesselt. Die beiden hielt der hünenhafte Fleischfresser, den sie Ochs nannten, an der Leine. Nick sah, dass Peter sich nur mit Mühe beherrschte, doch selbst er schien zu begreifen, dass ein schlecht abgepasster Angriff die Dame bei

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