Der Kinderdieb
schwang herum und schrammte am Ufer entlang. Peter sprang hinten auf die Reling, und die Teufel, Elfen und Barghests folgten ihm. Grille platschte durchs kniehohe Wasser, bis Peter sie hochzog. Als Nick mit einem Bein an Deck war, hörte er Mädchengekicher, und als er hinabblickte, sah er, wie die Hexe und ihre Töchter wie Spinnen an der Außenwand der Fähre hochkrabbelten.
Tanngnost kam als Letzter. Im gestreckten Galopp platschte er durch die strudelnden Fluten. Der Troll streckte eine Hand aus, und Peter, Schnitter und Huck zogen ihn an Bord, kurz bevor die Fähre wieder aufs offene Meer hinausfuhr.
Was jetzt?
, fragte sich Nick und beobachtete, wie die letzten Reste der Insel in der Bucht verschwanden. Sie versank nicht, sondern zerbröckelte und löste sich auf, wie wenn man Kakaopulver in Milch verrührt. Funkelnde, phosphoreszierende Dämpfe blubberten empor und verflüchtigten sich.
Nick hätte gedacht, dass er froh sein würde, Avalon nie wiederzusehen, doch jetzt ergriff ihn ein unerwartetes Gefühl der Hoffnungslosigkeit, und ihm wurde klar, dass er überhaupt nicht froh war. Er wollte nicht, dass Avalon unterging, zumindest nicht auf diese Weise. Er hatte das Gefühl, dabei zuzusehen, wie das Herz der Welt starb, verblasste und auf ewig in den Fluten versank.
TEIL 5
Ulfger
KAPITEL 25
Das Haus Gottes
Der Kapitän ließ den Finger an einem Träger entlanggleiten.
Ein Schiff aus schwimmendem Stahl
, dachte er verwundert. Dann blickte er von einem Licht zum nächsten.
Licht ohne Feuer
. Es handelte sich wahrhaftig um Wunderbares, wenn auch nicht um Wunder. Immerhin gab es eine Erklärung dafür. Diese Männer und Frauen waren nur Menschen, keine verlorenen Seelen auf dem Weg zur Erlösung, und sie waren auch keine Engel, trotz ihrer unglaublichen Stadt und des erstaunlichen Schiffs. Der Kapitän musterte einen Mann mit Halbglatze, schlaffen Kehllappen und fleckiger Haut, der vor ihnen zurückwich und fast über die eigenen Füße gestolpert wäre, als er die schmale Treppe zum zweiten Deck hochrannte.
Nein, das sind ganz sicher keine Engel
.
Der Aufbau auf dem Vorderdeck war voll gewesen, als sie an Bord gegangen waren. Doch sobald die Passagiere die zerlumpten Schiffbrüchigen genauer in Augenschein genommen hatten, waren sie hastig zum Heck oder auf die oberen Decks gerannt. Selbst jetzt konnte der Kapitän noch einige entsetzte, wenngleich neugierige Gesichter ausmachen, die hinter Ecken hervorlugten oder von den oberen Enden der Treppen aus zu ihnen herabspähten. Eine Passagierin war sitzen geblieben, eine alte Frau, die einen fusseligen gelben Strickmantel trug. Sie wirkte eher leicht beunruhigt als ernsthaft erschreckt.
Der Kapitän trat an die alte Frau heran. »Darf ich mich setzen, werte Dame?« Er wies auf den leeren Stuhl neben ihr.
Statt zu antworten, starrte sie ihn nur verkniffen an, undder Kapitän kam zu dem Schluss, dass es besser wäre, stehen zu bleiben. Letztlich war er ohnehin froh, endlich wieder Seegang unter den Füßen zu spüren.
»Verzeihen Sie, meine Dame«, setzte er an. »Haben …«
»Können Sie diesen verdammten Trotteln vielleicht mal sagen, dass sie die Tür zumachen sollen?«, fiel sie ihm mürrisch ins Wort und zog ihren Strickmantel fester um sich.
Der Kapitän folgte ihrem verärgerten Blick zum Vorderdeck, wo der Prediger und die meisten seiner Männer so dicht zusammengedrängt standen, dass sie sich in der breiten Doppeltür verkeilt hatten, durch die ein scharfer, beißender Wind in die Kajüte blies.
»Man könnte meinen, dass die noch nie auf einem Schiff waren«, schnaubte die Frau empört. Sie beugte sich vor und blickte mit zusammengekniffenen Augen durch ihre schildpattgemusterte Brille. Durch die dicken Gläser sahen ihre Augen aus, als bedeckten sie fast ihr ganzes Gesicht, sodass sie dem Kapitän ein bisschen wie ein griesgrämiges Insekt vorkam. »Wirklich ein
seltsamer
Haufen.«
Der Kapitän musste ihr recht geben. Sie waren tatsächlich ein seltsamer Haufen, wie sie mit den Fingern immer wieder auf die Stadt deuteten und dabei gurrten wie ein ganzer Taubenschwarm, wie sie ziellos umherliefen und die Lichter anstarrten und wie sie die Sitze, Fenster und allerlei glänzende Oberflächen mit den Fingern anstießen und andächtig befühlten.
»Meine Dame, würde es Ihnen etwas ausmachen, mich darüber aufklären, in welchem Jahr wir uns befinden?«
Die Frau schniefte laut und rümpfte die Nase. »Lieber Himmel, sind Sie das?«
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