Der Kinderdieb
Preis. Niemand weiß das so gut wie ich.
Er bemühte sich, klar im Kopf zu bleiben, weil er wusste, dass er es sonst nie durch den Nebel schaffen würde. Dann holte er tief Luft und trat in den wirbelnden Dunst.
Die drückende Stille verschluckte die Strandgeräusche, und selbst Peters Gedanken fühlten sich gedämpft an. Er stand stocksteif da und suchte nach dem Weg – den Weg zu finden und zwischen den Welten zu wandeln war eine seiner Gaben. »Dort«, flüsterte er, als er das dünne, golden funkelnde Band sah, das durchs Grau trieb.
Peter holte den Pfad ein und folgte ihm eilig. Früher als ihm lieb war, fand er sich bei dem
Nike
-Schuh wieder. Er blieb stehen.
Geh weiter
, sagte er sich.
Geh weiter, sonst bist du genauso tot wie der Rest.
Doch er hörte immer wieder Nicks Worte:
»Wenn ich zu weit zurückgeblieben wäre, wäre ich dann immer noch dort? Würde ich bis an mein Lebensende durch den Nebel irren und nach dir rufen?«
Peter fragte sich, wie lange der Junge in den Turnschuhen seinen Namen gerufen hatte.
Der Junge?
Der Kinderdieb lachte über sich selbst, ein hässliches, verächtliches Lachen. Der Junge hatte einen
Namen
gehabt. Jonathan.
Der gute Jonathan ist jetzt bei den Sluagh, nicht wahr?
, dachte Peter.
»Was soll’s?«, flüsterte er verbittert.
Wer hat das zu verantworten? Ist es vielleicht meine Schuld, dass er nicht zugehört hat? So ist es besser
, sagte er sich,
wenn der Nebel die Spreu vom Weizen trennt … die Schwachen von den Starken.
Peter trat gegen den Schuh.
Alles hat seinen Preis. Alles. Manche Dinge sind einfach nur teurer als andere.
In der Ferne erklang ein Glockenspiel, gefolgt von gedämpftem Lachen und Kindergesang. Der Nebel regte sich. Nun setzte Peter sich in Bewegung. Er rannte beinahe und hielt den Blick dabei fest geradeaus gerichtet, auf den Weg.
»Bald ist alles vorbei«, flüsterte er.
Der schwammige Boden wich Asphalt, und der Nebel lichtete sich. Bald kletterte die Sonne über die Gebäude empor, und die Geräusche der erwachenden Stadt schallten durch die langen Straßen von South Brooklyn. Der Nebel glitt wieder ins Meer, seine wirbelnde, funkelnde Substanz verflüchtigte sich und ließ Peter allein zurück.
Der Kinderdieb zog die Kapuze über und näherte sich einem entfernten Block trostloser Mietshäuser. Ein bekritzeltes Straßenschild verkündete, dass es sich um den ganzen Stolz des sozialen Wohnungsbauprojekts von Brooklyn High handelte. Peter begriff die politische Botschaft des Schilds nicht, aber er wusste einiges über Slums und Ghettos. Solch schmutzige, armselige Orte waren seit je gute Jagdgründe. Inzwischen waren die Gebäude größer, die Akzente und Kleidungsstile anders,doch die Gesichter waren die gleichen Masken des Elends wie schon vor Jahrhunderten: die Verzweiflung der Alten, Vergessenen und die grimmige Feindseligkeit der jungen Menschen ohne Zukunft. Eine Brutstätte für schwierige Jugendliche. Manche von ihnen waren zu schwierig. Aber die Zeit war knapp, und Avalon brauchte mehr Kinder. Peter würde es drauf ankommen lassen.
Der Kinderdieb betrat den Gebäudekomplex über eine Seitengasse. Er verharrte in den Schatten, und seine scharfen Sinne hielten aufmerksam nach Entmutigten und Verzweifelten Ausschau, nach Alleingelassenen und Misshandelten, nach einem verlorenen Kind. Verlorene Kinder brauchten jemanden, dem sie vertrauen konnten, sie brauchten einen Freund, und Peter war gut darin, Freundschaften zu schließen.
Er kletterte ein Regenrohr hinauf und ließ sich auf einen Balkon voller Mülltüten fallen. Unter einem regendurchweichten Stück Sperrholz bezog er Stellung und wartete, dass die Jungen und Mädchen zum Spielen rauskamen. Während er so dasaß, stieg ihm ein Geruch in die Nase, der kein bisschen weniger abstoßend war als der säuerliche Gammelgestank des Mülls. Es handelte sich um den Moschusgeruch von Erwachsenen: ihr Schweiß, ihr Darminhalt, ihre Schuppen, ihre schmierige, pockennarbige Haut, ihre schmalzverkrusteten Ohren, ihre hämorrhoidenverseuchten Unterleiber. Er rümpfte die Nase. Seit dem Tag seiner Geburt vor über tausendvierhundert Jahren hatte sich nichts an diesem Geruch geändert.
Er erinnerte sich deutlich an jenen Tag: der malmende Druck, als sein wässriges Heim ihn hinauspresste, der verzweifelte Versuch, sich zu widersetzen, ein Gefühl, das dem Ertrinken ähnelte, wie er aus dem Schoß seiner Mutter geglitten war, wie kalte Hände sich um seine Beine geschlossen und ihn ans
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